Auf den Olymp
150 km > 200 km > 300 km > 400 km
Was im Mai noch so unschuldig und gemütlich mit einer nahezu „kurzen“ Grevet #1 Runde durch den Berliner Norden begonnen hatte, sollte mit der Distanzfahrt Hamburg–Berlin seinen vorläufigen Saisonhöhepunkt erreichen.
Diesmal wollte ich eine der Ersten sein und stieg bereits am Vorabend des Wertungszeitraums in den Zug, um – man könnte geneigt sein zu sagen: abstruserweise – wenige Stunden später per Pedales zurückzufahren.
Das Konzept des nächtlichen Durchfahrens hatte ich bei Grevet #3 erfolgreich getestet. Nach einigen Abwägungen entschied ich mich erneut, am Abend zu starten und ohne geplante, feste Pause anzukommen.
Hektik vor dem Start
Die Deutsche Bahn ließ verlässlich gleich mal den ersten Zug verspäten, so dass mich eine wilde Hetzjagd durch die Stadt den ebenfalls verspäteten Anschlusszug Richtung Berlin gerade noch erreichen ließ. 7 Minuten Umsteigezeit am dortigen Hauptbahnhof sind durchaus als sportlich zu bezeichnen. Das Aufspringen im letzten Moment gelang, der Zugbegleiter drückte ein Auge zu und ließ mich mein Rad komprimieren und im Transportsack verstauen, als der Zug schon aus dem Bahnhof rollte.
17:27 Uhr
Ich stehe im Getümmel. Die Menschen strömen aus allen Richtungen, ziehen Rollkoffer hinter und schieben Feierabendschlechtelaune vor sich her, schubsen, drängeln, wollen nach Hause. Mich zieht es zum Ausgang. Ich schlängle mich so gut es geht durch schmale Lücken, verstaue noch einen legendären Hamburger-Franz im Gepäck, den anderen esse ich gleich sofort jetzt.


Die Sonne scheint. Gleichwohl ist es nicht zu warm. Welch Glück, dass die tropische Demse, die kaum 24 Stunden zuvor noch große Teile des Nordens fest in der Hand hatte, über Nacht wie verschwunden ist. Auch die Windgötter meinen es ausnahmsweise gut. Eine frische Brise weht luftig unterstützend aus West-Nordwest.
Der Tag wird zur Nacht
Mein Navi weist mir zuverlässig den Weg raus aus dem Großstadtgetümmel. Mit jedem gefahrenen Kilometer reduzieren sich die unfreiwilligen Ampel-Stopps, der Verkehr wird dünner, der Blick wird weiter. Der Lärm lässt nach. Das Rauschen der Autobahn geht über in das Rauschen des trockenen Laubs in den Bäumen und dem Wogen der Kornfelder, die den Weg säumen. Nach 35 Kilometern sehe ich die Elbe das erste Mal. Mit trügerischer Ruhe drängt ihr Wasser Richtung Mündung, wie es mich flussaufwärts weiter drängt. Kilometer um Kilometer rolle ich einsam und erholsam eintönig entlang des Elbe-Seitenkanals und passiere mit dem Schiffshebewerk in Scharnebeck CP1 nach 3 Stunden im Sattel.



25 Kilometer weiter tauche ich ins Abendrot und nutze CP2 für einen Biss ins Brötchen und das Überziehen meiner Jacke. Ab jetzt wird es stetig dunkler. Ein halber Mond und Sterne bündeln für die nächsten 100 Kilometer das letzte Licht. Im Wald bin ich allein. Im Kegel der Fahrradlampe holpert der Weg. Es raschelt immer wieder im Unterholz. Ich scheuche Rehe auf, Kleintiere huschen über den Weg. Füchse bleiben neugierig stehen, bevor sie dann doch den Pfad freigeben. Und immer wieder sehe ich Augenpaare funkeln, deren Besitzer ansonsten verborgen bleiben. Mein Herzschlag setzt für einen Moment aus, als mich der lautlose Flügelschlag einer Eule fast streift, bevor auch dieser große Vogel unsichtbar in der Nacht verschwindet. Das Beluga-Dreieck ist heute Nacht ein Bermuda-Dreieck: verschollen. Alles Spähen hilft nichts, das Boot an CP3 will sich nicht zeigen.



Wittenberge: Sperrung statt Brücke
Ich kämpfe gegen die Monotonie, die Kilometer und meine Müdigkeit. Verlockend ist der Gedanke, mich – kurz, nur ganz kurz – in einem der zahlreichen Hochsitze zusammenzurollen, jeder Schuppen in den stillen Dörfern ist eine größer werdende Verlockung zum heimlichen Pausieren. … Ich widerstehe, beiße die Zähne zusammen und trete weiter, bin dankbar für die kühle Nachtluft, die meine Sinne am Einschlafen hindert. Kurz vor Lutherstadt lasse ich meinen Müdigkeits-Tiefpunkt hinter mir, bin plötzlich wieder hellwach. Die Wegführung ist unübersichtlich. Überall ruhen Baustellen und erst nach einigem Gesuche finde ich den holprigen Weg zur Elbquerung, CP4. – Ein unauffälliges Schild verheißt nichts Gutes: „Fußweg gesperrt, Absturzgefahr“. — Trotzig probiere ich es trotzdem, rattere das Kopfsteinpflaster entlang und gebe dann doch auf, als direkt an der Brücke ein schweres Eisentor jegliches Vorwärtskommen unterbindet. Zurück und neue Wege finden. Ich muss einen großen Bogen über die Fernverkehrsstraße schlagen, gar nicht schön aber offenbar nötig. Schwerlastverkehr donnert vorbei, zum Glück nur sporadisch zu dieser Stunde. Die schwarze Elbe unter der Autobrücke lässt sich nur ahnen. Der weithin leuchtende Uhrenturm indes zeigt nicht nur die Zeit, sondern auch den Weg.
4:30 Uhr
Halbzeitpanne im Morgengrauen
Ich rolle motiviert über den Distanz-Scheitelpunkt dieser Tour, nehme mir gedanklich noch 100 Kilometer vor: Neuruppin wird Frühstückszeit! — Dass es anders kommt, merke ich, als ich wenig später fluchend mein Rad durch Brandenburger Ostseestrand arbeite und, als wäre das nicht genug, den schwindenden Luftdruck im Hinterrad bemerke. – Knöcheltief stehe ich zwischen Bäumen im Sand, zu weit zum Schieben, egal in welche Richtung. Auch wenn der Morgen sachte dämmert, ist es zu dunkel für einen schnellen Reifenwechsel. Ausgebremst. Frustriert. Mir fällt der zweite Franz im Gepäck ein. Ich setze mich neben mein Rad in die Stille, die keine mehr ist: Die Vögel haben längst ihre Frühmorgenlieder angestimmt. Ich kaue das süße Gebäck, schlucke und akzeptiere. Es könnte alles schlimmer sein. — Im Dreivierteldunkel krame ich das Flickzeug hervor. Platziere alles sorgfältig auf der ausgebreiteten Jacke, dass bloß nichts im hohen Gras verschwindet. Ich ziehe den Mantel von der Felge und taste nach dem, was möglicherweise das Loch im Schlauch verursacht haben könnte. – Meine Fingerkuppen erfühlen tatsächlich den Übeltäter … und augenblicklich schelte ich mich ob meiner eigenen Nachlässigkeit. Hatte ich nicht tags zuvor noch einen frischen Schlauch aufgezogen, weil mein Hinterrad – wie mysteriös – immer wieder, ganz langsam, die Luft verlor? Hatte ich mich nicht über das minikleine Loch gewundert, das sich schnell flicken ließ? – Wie konnte ich vergessen haben, den Mantel schon gestern zu kontrollieren?! – Mit Sicherheit wäre mir der Dorn, den ich jetzt im Schein der Handylampe mühsam aus dem Mantel pule, aufgefallen und ich hätte mir dieses nächtliche Intermezzo ersparen können. – Nach der Tour ist vor der Tour. Seufzend verbuche ich dies als „Lehrgeld“ und pumpe im Halbdunkel in mein Hinterrad so viel Luft, wie eben geht. Noch ein bisschen Sandschieben, bevor ich mich im Vierteldunkel endlich wieder aufs Rad schwinge, dem neuen Tag entgegen.


Rosa Himmel und müde Muskeln
Frühnebel wabert über den Wiesen, während der Himmel sich rosa färbt. Ich finde schnell zurück zur Tretroutine, holpere abwechselnd über Feld und Wiese oder rolle über schnellen Asphalt, Kilometer über Kilometer über Kilometer. Mein Hinterrad schlingert leicht. Der Luftdruck meiner Handpumpe hat nicht gereicht, um den Mantel wieder richtig in die Felge zu drücken. Irgendetwas schleift und klappert. Ich bin genervt und hoffe auf einen Fahrradladen in Neuruppin.
Die Stunde Reifenpanne legt sich mehr auf den Magen, als mir lieb ist. Ich entscheide neu und stoppe für zwei Brötchen, Wasser und vor allem eine Tasse Kaffee bereits bei Kilometer 270 im erwachenden Kyritz. Die jungen Verkäuferinnen lästern ungeniert und laut über ihre Männer – fragwürdiges Entertainment, aber willkommenes Leben.
Boxenstopp Neuruppin
Die Sonne braucht recht lange, bis sie entscheidet sich durchzusetzen. Meine kalten Füße werden langsam wieder warm, die Jacke verschwindet im Gepäck. Für Abwechslung sorgen immer mal wieder kurze Sandpassagen und kurze Klettereinlagen: So viele entwurzelte Bäume auf dem Weg. Opfer des Klimawandels.
In Neuruppin verlasse ich kurz den Track und finde den einen Fahrradladen, der vor zehn Uhr geöffnet hat. Die Jungs der Rad Passage helfen unkompliziert mit Luft und justieren kurz den Umwerfer neu. Schlinger- und klapperfrei ziehe ich dankbar weiter. Es ist zu verlockend: Am Markt decke ich mich mit zwei Stück Kuchen ein, schiebe noch ein Brötchen in die Trikottasche und atme tief durch: Noch 80 Kilometer.
Runterzählen in Kilometern
Der letzte Abschnitt der Tour führt viel durch Wald und zunehmend möchte ich einfach nur noch ankommen. Ich spüre die Anstrengung in den Beinen, die unermüdlich treten, in den Armen, die seit Stunden die Erschütterungen des Untergrundes abfedern, im Sitzbereich, nun ja. Da eben auch. Ich spüre den Schlafentzug in meinem Bewusstsein. Mein Kopf ist im Autopilot, blendet alles aus, was unnütz Energie kostet und nicht zum Fokussieren auf die Strecke benötigt wird. Kein Schweifen von Gedanken mehr, kein Interesse an der Umgebung. Kaum noch das Bedürfnis, mal ein Foto zu machen. Noch 50 Kilometer. Ich hoffe auf schöne Radwege, ein bisschen Asphalt, wo sind die Fahrradstraßen, wenn man sie mal braucht. Stattdessen Wurzeln, Sand, Panzerplatte.



Ich verliere mich in einem trancegleichen Zustand in wirren Rechenspielereien:
noch 45 km = eine Hausrunde + einmal Geltow und zurück.
noch 32 km = eine Hausrunde = eine Rennradstunde = 1h 30m Gravel.
noch 20 km = bis zur Fähre Ketzin.
noch 15 km = 5 km und dann nur noch 10 Kilometer.
noch 10 km = fast einstellig = ……. quasi Nichts.
Ankunft im Schlosspark Pankow
14:52 Uhr
Meine Gleichungen gehen schließlich auf. Durch überraschende Naturparklandschaften und vorbei an Schrebergärten rolle ich dem Ende dieser Reise entgegen. Fast irritiert es, dass ich am Schlosspark ein letztes Mal aus den Pedalen klicke und einfach nur absteigen kann, dass es – ganz unwirklich – geschafft und „vorbei“ sein soll. Ich suche die Schildkröte an CP 6 und versuche, die Symbolik zu verstehen. Ein kriechendes Panzertier am Ziel?! 404 Kilometer Treten und Durchhalten auf dem Rad. Sind es da nicht eher die Stärke des Löwen oder die Ausdauer des Wolfes oder der Weitblick des Adlers, die in dieser Herausforderung stecken? – Dann kommt mir mein Bett in den Sinn, ich denke an Einkugeln, an Ruhe, an Ankommen. Und irgendwie scheint das Bild der Schildkröte dann doch ganz stimmig.


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