Anne ist eine besonders furchtlose Grandonneurin, die sich ’22 ohne viel Vorerfahrung direkt mit vollem Einsatz in die Berliner Serie warf und sich weder von dunkelgrünen Ampeln, noch windpockengeplagtem Nachwuchs aufhalten ließ — bis ein Rahmenbruch (!) während der Berliner #3 sie vorerst stoppte. Aber sie setzte natürlich alle Hebel in Bewegung und war schnell wieder zurück auf dem Rad. – Beim Frühjahrsklassikerwetter dieses Jahr kamen aber sogar bei ihr Sinnfragen auf, die sie letztlich mit einem souveränen ‚einfach mal machen‘ beantwortet. Lest hier ihren unterhaltsamen Bericht zur Berliner #1 „Ikarus“!
Anne MuuH
Endlich. Ein Lichtblick in trüben Spätwintertagen. Im Mailverteiler finde ich die Information, dass es auch 2023 eine Grevet-Serie im Raum Berlin geben würde. – Im letzten Jahr bin ich eher zufällig auf dieses regionale Highlight für „Ich-schinde-mich-am-liebsten-offroad-Liebhaber“ aufmerksam geworden und habe mich natürlich kompromisslos als Langstrecken-Greenhorn mitgeschunden.
Im Westen was Neues
Um in Erinnerung zu schwelgen: Man wächst mit seinen Aufgaben. Ich habe gelernt, egal ob 150, 200 oder 400km – man braucht es nicht nur in den Beinen, sondern vor allem im Kopf: Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Zugeben muss ich: Das frühmorgendliche und noch schlaftrunkene Heranquälen mit der Berliner S-Bahn von Potsdam aus, zu Orten in der östlichsten und nördlichsten Berliner Randprovinz, vorbei an endlosen Hochhausreihen, die ich bis dato nur aus den Klatschzeitungen kannte, habe ich ein Stück weit verteufelt und bei den Heimfahrten im Dämmerlicht immer mal wieder gedacht: Meine lieben Grandonneure. Der „Westen“ hat doch auch was zu bieten.
Welch schönere Motivation hätte es nun zum Auftakt der diesjährigen Serie geben können?! Ein breites Grinsen und ein Zucken im Bein beim Blick in die Streckenbeschreibung: Das wird (m)ein Heimspiel.
Entsprechend gemütlich lasse ich es am Morgen des 12. April angehen. Der Wetterbericht verspricht das beste Wetter der letzten zwei Wochen (Zugegeben, das ist keine Kunst.). Sonne soll es geben und moderate Temperaturen. Das bisschen Wind, angekündigt mit Böen bis 48km/h, kann man da ignorieren. Theorie und Praxis beißen sich hier. Dazu später mehr. – Statt multikultureller S-Bahn-Kilometer schlafe ich, bis es hell ist und gönne mir eine entspannte Tasse Kaffee, bevor ich zwei Kilometerchen zu meinem persönlichen Startpunkt am Telegraphenberg anradel, noch einmal winke und dann eine Schneise in Richtung meines ersten Checkpoints schlage.
Frühlingserwachen
Herrlich ist es, die Wintermüdigkeit mit jedem gerollten Kilometer abzuschütteln, den gerade ergrünenden Wald zu atmen. Ein aufgeschrecktes Reh schlägt wenige Meter vor mir einen Haken. – ‚Hier bin ich Grandonneur, hier darf ichs sein‘, würde Faust wohl sagen, wäre er etwas neuzeitlicher unterwegs gewesen … Der normalerweise sehr sandige Boden trieft nicht mehr trotz des reichhaltigen Regens der letzten Tage. Er hat genau den richtigen Grip für kaum mehr als 48 Stunden, bevor er wieder ins Brandenburger Sahara-Niveau kippt. Nicht nur einmal durchzuckt mich im Tagesverlauf der Gedanke, welch eine Schlammschlacht die tapferen Bestreiter des Social-Grevet erlebt haben müssen.
Checkpoint 1 lasse ich großmütig links liegen. Heimspiel. Das weiß hier jeder auch ohne gucken. „Früher“, da hätte die Tetris-Ansicht auch noch gelbe Quadrate gezeigt. „Früher“, da war aber ja auch noch alles besser.
Checkpoint 2 erreiche ich nach diversen schnurgerade gezogenen schottrigen Kilometern und einer kleinen Navi-Irritation. Da wollte die Madame doch tatsächlich einen anderen Weg navigieren als den von mir präferierten. Nur knapp entgeht meine Wade am falschen Abzweig einem nicht erzogenen Kläffer an viel zu langer Leine, bevor ich Checkpoint 2 auf dem Wietkiekenberg in unglaublichen 124 Metern NHN erklimmen muss. Hätte ich da beim letzten Besuch mal besser aufgepasst, hätte ich mir zumindest die Treppen ersparen können. Stufen zählen, wäre doch auch eine schöne Aufgabe gewesen. Spoiler: Es sind 116. Oder so ähnlich. … Zurück ins Tal auf knapp 30 Meter NHN geht es so schnell, dass es fast eines Tauchkompressors bedurft hätte.
Der nächste Abschnitt und der Weg zu Checkpoint Lilienthal sowie die sich anschließenden Felder und Überflutungsgebiete gehören zu meinen persönlichen Highlights, von dem, was die Gegend hier so zu bieten hat. Der aufgeblühte Tag schenkt mir einen strahlend blauen Himmel, fast ist es warm, fast wäre ich geneigt, die Jacke wegzustecken, wenn … ja, wenn nicht der deutlich verfrüht aufgefrischte Wind damit begonnen hätte, an Rad und Radler zu zerren. Die letzten drei Kilometer bis zur Fähre Ketzin (die glücklicherweise einen pannen- und wartungsfreien Tag eingelegt hat) geben einen kleinen Vorgeschmack auf das, was mich auf der anderen Havelseite erwartet.
Zunächst geht es noch relativ geschützt, aber vor allem immer weiter Richtung Norden. Der Wind schiebt mich energisch ins Windradfeld. Besorgt halte ich den Finger in die nächste Böe und schaue auf die Karte, während ich in ein belegtes Brot beiße und eine Handvoll Nüsse runterkaue. Das kann ja heiter werden. – Anstelle des Fahrtwindes braust mir auf den nächsten zähen Kilometern ein aggressiver Süd-Süd-Ost wahlweise in die Flanke oder ins Gesicht. Ich fühle mich wie Don Quijote. Jeder Meter zehrt an der Energie, jede Kurve und jedes Schlagloch bremsen ein Stückchen mehr. Und davon gibt es viele. Punktuell hebt es mich fast vom Rad und ich schlingere das ein oder andere mal haarscharf am Güllegraben vorbei. Ein Traktorfahrer schaut mich im Überholvorgang mit einer Mischung aus Belustigung und Mitleid an, fragt sich vermutlich, warum ich das da eigentlich tu. Die Frage hat zunehmend Berechtigung. –
Nach knapp 80 gerollten Kilometern pausiere ich ein paar Minuten im Windschatten der Mitfahrerbank an Checkpoint 4 und halte das Richtungsschild Potsdam in die Höhe. Wenig überraschend stoppt niemand, dem ich hätte sagen können, dass ich das hier nur so zum Spaß halte. – Das Konzept scheint noch nicht ganz ausgefeilt.
Potsdam vor Augen trotze ich dem Wind, während ich über die Bornimer und Bornstedter Feldflur meinem Lieblingscafé in der City entgegenrolle, drei Steinwürfe entfernt von Dusche und Bett (= Schattenseite des Heimspiels) das Bergfest nachfeiere und ein Häkchen hinter Schleife 1 setze.
Schleife 2 rollt sich kurz nach halb drei Uhr gut an, meinen Tiefpunkt habe ich erfolgreich in Potsdam gelassen. Den Teltow-Kanal kenne ich, zumindest bis zur Schleuse, danach zieht es sich ganz schön bei zunehmender Verkehrs- und Infrastrukturdichte. Ständig Bremsen für Wegblockierer drosselt das Tempo erheblich. Außerdem sind es zu viele Wege und Wegvarianten für mein Navi. Immer wieder muss ich stoppen, um den Track abzusichern oder wiederzufinden. Als ich gerade darüber nachgrüble, an welcher Stelle ich vielleicht den fünften Checkpoint übersehen haben könnte und welche Ausrede das plausibel erklärt, ist es unverhofft geschafft: Das Lilienthaldenkmal lädt zum letzten offiziellen Fotoshooting des Tages. –
Sinnfragen
Bei aller Euphorie bemerke ich erst jetzt so richtig, als mich ein leichtes Frösteln durchfährt, dass das Wetter umgeschlagen hat. Schwere Wolken verdecken die Sonne und dabei bleibt es leider nicht. Keine 35km trennen mich mehr vom Ausgangspunkt und toppen dennoch unerwartet noch einmal den mittäglichen Kampf gegen die Windmühlen. Zum Wind gesellt sich beim nervigen Stop-and-Go des Berliner Feierabendverkehrs Nieselregen, welcher zu einem leichten aber beständigen Platterregen anwächst. Mit der Nässe kommt die Kälte. Tatsächlich fühle ich mich genötigt, meine Regenjacke überzuziehen, noch bevor das Autobahnhopping beginnt, um nicht komplett durchzuweichen. Ab jetzt fahre ich wie in einem Tunnel. Das Genussfahren des Vormittags und die Zufriedenheit über jeden Etappen-Check weichen einer einzigen Mission: Einfach ankommen! Kilometer um Kilometer kämpfe ich mich auf Schleife 2 zurück Richtung Stadt, meiner Stadt. Es werden nasse und quälende letzte Kilometer, bei denen das Wasser in den Schuhen steht und der Blick für mögliche Highlights hinter einem grauen Vorhang versinkt. –
Und dennoch. Nachdem die Lebensgeister nach einem ordentlichen Teller Pasta wieder erwachen, Gefühl in Füße und Fingerspitzen zurückkehrt und das Sofa einen gechillten Abend offeriert, verdrängt tiefe Zufriedenheit die Repressalien der letzten Kilometer und wichtig ist nur noch, dass Ikarus bezwungen wurde. Und mit unglaublicher Klarheit steht mir die Antwort vor Augen: Warum das Ganze?! – Na, weil ich es kann!
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