Im Jahr 1894 befasste sich der XI. Bundestag des Deutschen Radfahrer-Bundes in Hannover eingehend und systematisch mit dem damals neuen Phänomen der Distanzradfahrten. Diese Disziplin, die lange aus dem Blickfeld des (professionellen) Radsports verschwunden war, erlebt heute eine Renaissance und verleiht der historischen Quelle eine neue Aktualität. Welche Lehren lassen sich aus der Vergangenheit für die heutige Zeit ziehen? Wir veröffentlichen den anonymen Text daher erneut, in der Fassung, wie sie 1895 in der Allgemeinen Sport-Zeitung erschien, da er mittlerweile gemeinfrei ist.
Inhalt
Distanzfahrten Teil 1
Im Radsport unserer Zeit spielen die Distanzfahrten eine sehr wichtige Rolle. Dass sie in verhältnismässig kurzer Zeit zu einer solchen gelangen konnten, beweist, dass sie einem vorhandenen Bedürfnis Genüge leisten. In der That kann der sich auf dem cyclistischen Gebiete bewegende sportliche Trieb sich nicht blos auf die Bethätigung auf der Rennbahn beschränken, sondern er muss natürlicherweise im Bestreben nach Erzielung hoher körperlicher Leistungen auch das Fahren auf der Landstrasse berücksichtigen. Eine Entwicklung in diese Richtung war dem Gedeihen des Radsports nur förderlich, da die Landstrasse der weitaus grössten Zahl von Anhängern unseres Sports viel leichter zugänglich ist und eine weitaus grössere Anziehungskraft für sie besitzt als die Rennbahn. Tatsächlich gibt es auch viele Leute, deren natürliche Anlagen sie auf sportliche Übungen hinweisen, die als hervorragende Eigenschaft Ausdauer erfordern.
Der Hinweis auf diese letztgenannte Eigenschaft lässt erkennen, dass sich das Wettfahren auf der Landstrasse nur nach der Seite der langen Strecken hin entwickeln konnte. Soll ausschliesslich Schnelligkeit geprüft werden, so bedarf es hierzu eines Platzes, der die Entfaltung derselben in vollem Masse und bei möglichst grosser Sicherheit gestattet. Dies ist die Rennbahn. Die Landstrasse dagegen ist aus sehr naheliegenden Gründen – hauptsächlich im Hinblick auf die Sicherheit der Fahrer wie des Publikums – für die Erprobung äusserster Schnelligkeit durchaus ungeeignet. Dafür bietet sie aber – namentlich infolge der bei längeren Strecken niemals fehlenden natürlichen Hindernisse und Beschwerden – ein vorzüglich passendes Feld für die Prüfung der Ausdauer. Der ernsthafte Sport wird also die kürzeren Rennen auf die Rennbahn, die längeren auf die Landstrasse verweisen und nur in Ausnahmefällen Uebergriffe gegen diese weise Abgrenzung gutheissen können.
Sobald unser Sport festen Fuss gefasst hatte, begann man sich auch für die Abhaltung von Strassenrennen über lange Strecken zu interessieren, und bald traten auch die beiden Formen auf, die bei Strassenfahrten üblich sind, nämlich einerseits das Streben, eine gewisse Strecke in möglichst kurzer Zeit zurückzulegen, und andererseits das Bemühen, innerhalb einer gewissen Zeit eine möglichst bedeutende Strecke zu bewältigen.
Die ersten Anfänge des Strassenrennsports finden wir in England, wo schon Mitte der Achtzigerjahre Rennen auf der Landstrasse stattfanden, und wo bereits im Jahre 1888 der „North Road Club“, der sich ausschliesslich die Pflege des Strassenfahrens als Ziel setzte, ein 12- und ein 24-Stunden-Rennen abhielt. Auch in anderen radsporttreibenden Ländern wurden ab und zu Rennen auf der Landstrasse, meist über Strecken von 25 bis 100 Kilometern, gehalten und beispielsweise in Deutschland auch schon die Rekorde für 12 und 24 Stunden aufgezeichnet. Gleichzeitig begann man auch in England Fahrten gegen die Zeit zwischen einzelnen Städten, wie London–Brighton und zurück, oder London–Edinburgh, zu unternehmen und die kürzeste Zeit für die Durchquerung der Insel von Süden nach Norden, von Lands End nach John O’Groats (eine Strecke von 861 Meilen = 1385 Kilometer), festzustellen. Auf dem Kontinent wurden die grossen Strassenfahrten zuerst in Frankreich gepflegt, wo man schon 1890 und 1891 eine Anzahl leidlich guter Strassenrenner besass, die jedoch den Engländern noch nicht gewachsen waren. Einen gewaltigen Aufschwung nahm der Strassenwettfahrsport mit der Einführung der durch die Fachzeitschrift „Le Veloce Sport“ organisierten Distanzfahrt Bordeaux–Paris. An dem ersten dieser bekanntlich seither alljährlich stattfindenden Rennen, das im Mai 1891 stattfand, nahmen auch fünf der besten englischen Fahrer teil, von denen Mills, Holbein, Edge und Bates vor dem als ersten Franzosen ankommenden Jiel-Laval auf den ersten Plätzen endeten.
Dieser Misserfolg spornte die Franzosen zu doppelter Aktivität auf dem betretenen Gebiet an; bereits im selben Jahr folgte die Fahrt Paris–Brest und zurück, die jedoch schon die für den französischen Sport charakteristische Übertreibung der Anforderungen zeigte (das Rennen führte über eine Strecke von nahezu 1200 Kilometern). Als im nächsten Jahr die Engländer an dem erneut veranstalteten Rennen Bordeaux–Paris aufgrund des in Frankreich herrschenden Geldpreissystems nicht teilnehmen durften, wurde das Rennen von Stéphane in einer Zeit gewonnen, welche die von Mills erzielte um nahezu eine Stunde übertraf; seitdem ist Frankreich als gleichberechtigter Konkurrent um die Rekorde auf der Landstrasse angetreten, und eine lange Reihe von Strassenwettfahrten breitete diesen Sport wie in England mehr und mehr aus. In Deutschland wurde – nachdem schon 1889 anlässlich des Hamburger Bundestages eine Wettfahrt Berlin–Hamburg stattgefunden hatte – das erste grosse Strassenrennen auf der 500 Kilometer langen Strecke Leipzig–Berlin–Leipzig–Dresden–Leipzig durch das „Stahlrad“ veranstaltet. Diese Dauerfahrt, bei der Maschinen mit Pneumaticreifen ausgeschlossen waren, gewann A. Blank-Bingen. Einen weiteren Fortschritt brachte die im Juli des Jahres 1892 vom Deutschen Radfahrerbund veranstaltete Staffelfahrt Berlin–Köln, bei der die Strecke von 611 Kilometern unter ungünstigen Verhältnissen in 28 Stunden und 37 Minuten zurückgelegt wurde. Im September folgte dann die grosse Distanzfahrt Wien–Graz–Triest, die über 500 Kilometer führte und bei der in dem Semmering und dem Karst zwei gewaltige Höhenzüge überwunden werden mussten. Der Sieger, Sobotka-Wien, gewann in der sehr guten Zeit von 28 Stunden und 45 Sekunden.
Als im Herbst desselben Jahres der Distanzritt Wien–Berlin und vice versa stattfand, erregte dieses Ereignis das Interesse auch der dem Sport sonst gleichgültig gegenüberstehenden Kreise und fand in der Tagespresse und damit beim Publikum die grösste Beachtung. Die Bewunderung der erzielten Leistungen und die lebhafte Theilname, deren sich der Distanzritt allgemein erfreute, mussten die Vertreter des Radfahrsports dazu führen, die Gelegenheit zu nutzen, um die Ueberlegenheit des Fahrrads gegenüber dem Pferd in überzeugender Weise darzutun. Denn – bei aller Anerkennung der Geschicklichkeit und Energie der Reiter – der Distanzritt lieferte als praktisches Ergebnis eigentlich nur den Beweis der vollständigen Unfähigkeit des Pferdes als Fortbewegungsmittel für längere Strecken. Man erkannte, dass der Augenblick gekommen sei, dem Fahrrad endlich die teils immer noch fehlende Anerkennung als Verkehrsmittel ersten Ranges zu erkämpfen. Der Distanzritt legte das Projekt einer Distanzfahrt nahe und brachte zugleich diesen vorher noch nicht angewandten Ausdruck in Gebrauch. Schon die Vorbereitungen wurden allgemein in der Presse erörtert, und die Fahrt selbst bildete einige Tage hindurch einen Hauptgegenstand der öffentlichen Aufmerksamkeit und erbrachte mit der glänzenden Leistung Fischers, welche die des besten Reiters um mehr als das Doppelte übertraf, den klaren Beweis der Ueberlegenheit des Fahrrads über das Pferd und seiner eminenten Tüchtigkeit als Verkehrsmittel. Sie machte dadurch natürlich die nachdrücklichste Propaganda für unseren Sport. Im Herbst desselben Jahres sind dann noch von bedeutenden Fahrten die vom Gau VI Rheinland des Deutschen Radfahrerbundes veranstaltete 300-Kilometer-Fahrt Mainz–Cleve und das Rennen Maastricht–Nymwegen und zurück zu erwähnen, deren erstes von Sorge und das zweite von Mündner gewonnen wurde. 1894 hat in den letzten Wochen die Distanzfahrt Mailand–München im selben Masse wie im Vorjahr Wien–Berlin allgemeines Interesse erregt und für den Herbst stand noch die Fahrt Basel–Nymwegen in Aussicht.
Wie wir aus dem obigen geschichtlichen Rückblick sehen, hat es schon seit längerer Zeit Strassenrennen über grosse Strecken gegeben. Der Ausdruck „Distanzfahrt“ ist jedoch ein relativ neuer Begriff, und mit seiner Einführung hat sich auch allmählich ein besonderer Begriff dafür gebildet, der sich keineswegs mit dem eines Strassenrennens deckt. Denn nicht jedes Strassenrennen – und möge es über die längste Strecke führen – ist eine Distanzfahrt. Bei einem Strassenrennen geht es darum, eine bestimmte Strecke in möglichst kurzer Zeit zu durchmessen oder innerhalb einer bestimmten Zeit eine möglichst grosse Strecke zurückzulegen. Auf welcher Strasse und in welcher Weise dies geschieht, ist einerlei. Ein Strassenrennen kann eine und dieselbe Strecke mehrmals befahren, es kann die günstigste, ebenste und besterhaltene Strasse gewählt werden, und ebenso wird ohne Bedenken auf die Windrichtung und andere Witterungseinflüsse Rücksicht genommen. All dies geschieht tatsächlich bei den grossen englischen Strassenrennen auf der North Road. Die Erreichung einer möglichst hohen Leistung ist das einzige Ziel einer solchen Fahrt. Die Distanzfahrt hingegen verfolgt auch noch wesentlich andere Ziele. Sie will neben der Erprobung der Fahrer die praktische Brauchbarkeit des Fahrrads als Fortbewegungsmittel für Distanzen jeder Grösse, insbesondere aber für längere Strecken, den Behörden und dem Publikum demonstrieren.
Anonymer Beitrag aus der „Officiellen Festschrift zum XI. Bundestag des detschen Radfahrerbundes, wiedergegeben nach Allgemeine Sport-Zeitung, Januar 1895, S. 69-70
Distanzfahrten Teil 2
Die rasche Verbreitung der Distanzfahrten und die Schnelligkeit, mit der sie in kurzer Zeit volksthümlich geworden sind, lassen auf einen bedeutenden ihnen innewohnenden Werth schliessen. Diesen zu bemessen und in grossen Zügen hier festzustellen, sei der Zweck der nachfolgenden Ausführungen.
Besprechen wir zunächst den sportlichen Werth der Distanzfahrten. Während die Prüfung der Tüchtigkeit eines Fahrers sich in Bezug auf kürzere Strecken auf der Rennbahn vollzieht, geschieht dieselbe in Bezug auf lange Distanzen—wie schon früher erwähnt—auf der Landstrasse. Das Strassenrennen über lange Strecken erfordert nun eine ganze Reihe von Eigenschaften, deren Vorhandensein und deren Ausbildung zur Beförderung körperlicher Tüchtigkeit wesentlich beitragen und den Distanzfahrten grossen sportlichen Werth verleihen.
Das erste Erforderniss, das nicht nur ein Sieg in einer Distanzfahrt, sondern auch überhaupt die Theilnahme und das Durchhalten in einer solchen stellt, ist Ausdauer, und zwar in verschiedenem Sinne. Zunächst kommt die Ausdauer der Muskulatur in Betracht, die in überaus hohem Grade nöthig ist. Man denke nur daran, welche Summe von Kraft allein die mechanische Arbeit des Tretens während eines durch wenige Minuten Rast kaum unterbrochenen Zeitraums von 24 Stunden oder mehr erfordert! Betrachten wir beispielsweise Fischer’s Fahrt von Mailand nach München und nehmen eine Durchschnittsübersetzung von 63 Zoll an, so würde ihn nach Berücksichtigung der durch das Eindrücken des Pneumaticreifens während der Fahrt eintretenden Verringerung des Raddurchmessers eine Kurbelumdrehung von zwei Tritten etwa 5 Meter, ein Tritt also 2,50 Meter fördern. Zur Zurücklegung eines Kilometers würden also 400 Tritte nöthig sein. Dies ergibt für die 590 Kilometer betragende Strecke etwa 236.000 Tritte, welche in 29 ½ Stunden gemacht wurden, was für die Minute 133 Tritte ergibt. Welche colossale Arbeit, welches gewaltige Mass von Muskelanstrengung repräsentiert eine solche, noch dazu unter erschwerenden Umständen, wie Hitze, Regen und Terrainhindernisse vollbrachte Leistung! Welche unablässige Übung, welche sorgfältige Ausbildung der vorhandenen Fähigkeiten ist nöthig, um selbst den bestbeanlagtesten Mann zu solcher Leistungsfähigkeit zu bringen!
Nicht nur die Ausdauer der Muskeln, sondern selbstverständlich auch diejenige der inneren Organe ist zur Durchführung einer Fernfahrt erforderlich. Besonders das Herz, die Leber, die Lunge und die Blutgefässe werden ungeheueren Anstrengungen ausgesetzt, die ein Mann, der nicht über die vollkommene Integrität dieser Organe und die durch ein sorgfältiges Training erhöhte Fähigkeit, verlorene Kräfte schnell wieder zu ersetzen, verfügt, unmöglich aushalten könnte. Ebenso werden an den Magen und das ganze Ernährungssystem durch das lange Verweilen im Sattel bei knapper Nahrungsaufnahme und starkem Kraftverbrauch grosse Anforderungen gestellt. Ein Wettfahrer kann schon in einer Stunde einen Liter Schweiss verlieren, der, da Fette und Blutwasser aus dem Körper entfernt, die schwerer wie Wasser sind, über ein Kilogramm betragen kann. Dass das Nervensystem durch eine einen vollen Tag oder gar noch länger währende Anstrengung, durch die ermüdende Gleichmässigkeit der Bewegung, durch den steten Kampf gegen Ermattung, Schlaf angespannt wird, bedarf gewiss keines Beweises.
Neben der Ausdauer und gewissermassen als nothwendige Vorbedingung derselben ist ein bedeutendes Mass von Energie bei den Distanzfahrten nöthig. Schlechter Weg, Steigungen, Gegenwind sind Hindernisse, deren Ueberwindung oft recht schwer fällt. Je länger die Fahrt währt, desto häufiger treten Augenblicke ein, wo die Ermüdung einen besonders hohen Grad erreicht (der »tote Punkt«, wie man diesen Zustand zuweilen nennt), und wo man des Aufgebots aller Willenskraft bedarf, um nicht nachzulassen und die ganze Sache aufzugeben. Hier muss die suggerierende Wirksamkeit der Schrittmacher einsetzen. Ebenso erfordern die Enthaltsamkeit im Essen und Trinken, die Ueberwindung des natürlichen Ruhe- und Schlafbedürfnisses und das Aushalten einer Menge kleiner äusserlicher Beschwerden und Unbequemlichkeiten in ihrer Gesamtheit eine ganz gehörige Summe von Energie, deren Besitz aber auch ein werthvolles und im Leben häufig gebrauchtes Gut ist.
Aufmerksamkeit, Ruhe, Scharfblick, Geistesgegenwart und Entschlossenheit sind weitere Eigenschaften, die zwar schon durch das Radfahren überhaupt entwickelt werden, bei Distanzfahrten aber besonders nöthig sind und dabei eine nicht gewöhnliche Ausbildung erlangen.
Wenn auch ein durchaus kräftiger Körper und Lust und Liebe zur Sache unersetzliche Factoren zur Erlangung der vorerwähnten Eigenschaften sind, so ist doch hierzu stete, jahrelange Übung nöthig. Für die Erfüllung sportlicher Aufgaben auf der Landstrasse ist in vielleicht noch intensiverem Masse als auf anderen Sportsgebieten eine sorgfältige Vorbereitung nothwendiges Erforderniss.
Diese Vorbereitung, mit dem terminus technicus »Training« benannt, ist nun aber an sich, in der richtigen Weise betrieben, ein grosser Gewinn für den Körper. Unter Training verstehen wir diejenige Behandlung des Körpers, welche einerseits durch fleissiges Ueben auf die Erreichung höchster Tüchtigkeit hinarbeitet, andererseits aber auch durch zweckmässige Ernährung, streng geregelte Lebensweise und äussere Einflüsse (wie Baden, Abreiben u. s. w.) in solche Verfassung bringt, dass er zur Entwicklung seiner vollen natürlichen Leistungsfähigkeit befähigt ist. Das Training ist die Lösung des grossen Räthsels, welches die Entfaltung der höchsten körperlichen Leistungen für den Laien bedeutet. Es macht Dinge möglich, die dem Unerfahrenen in dieser Beziehung geradezu unmöglich erscheinen. Es befähigt den Fahrer, auch grosse körperliche Anstrengungen ohne Schaden für die Gesundheit zu tragen, weil es, wie wir oben bemerkt, die Fähigkeit, verlorene Kräfte zu ersetzen, erhöht. Diese wohltätige Wirkung des Trainings auf den Körper zeigt sich aber nicht bloss bei den auserwählten Siegern in den Distanzfahrten, sondern sie erstreckt sich auch auf die grosse Zahl derjenigen, welche nach dem gleichen Ziele ringen und dasselbe durch gewissenhafte Vorbereitung zu erreichen suchen.
Dadurch aber wird das Strassenfahren überhaupt sehr gefördert. Es wird tüchtig geübt, Jeder sucht aus sich herauszubringen, was möglich ist, und die Preistouren, die eine vorzügliche Vorbereitung für die Distanzfahrten bilden, werden mit Eifer gepflegt. So wächst durch die Freude an den nicht ausbleibenden Fortschritten die Lust zum Sport. Es wird ein Stamm tüchtiger Tourenfahrer geschaffen, die ihrerseits wieder Schule machen und dem Sport neue Freunde zuführen. Durch all dieses wird die durchschnittliche Leistungsfähigkeit der Radfahrer und damit dem Publicum gegenüber diejenige des Fahrrades selbst wesentlich erhöht, was der Ausbreitung des Radsports nur förderlich sein kann.
Anonymer Beitrag aus der „Officiellen Festschrift zum XI. Bundestag des detschen Radfahrerbundes, wiedergegeben nach Allgemeine Sport-Zeitung, 27. Januar 1895, S. 90-91.
Distanzfahrten Teil 3
Die für Distanzfahrten geeignete Streckenlänge kann natürlich je nach den Umständen ziemlich variieren. Sie darf jedoch nicht zu kurz sein, damit Ausdauer tatsächlich das entscheidende Element für den Sieg bleibt und nicht ein gelegentliches Auftreten eines Rennbahnfahrers bereits einen Sieg bedeutet. Andererseits sollte sie aber auch nicht so lang sein, dass ihre Bewältigung in einem Strassenrennen übermässige Anstrengung erfordert und damit gesundheitsschädlich wirken kann. Als Mindestmass dürfte eine solche Strecke anzusehen sein, die in ungefähr 12 Stunden gefahren werden kann, also etwa 300 Kilometer; die Maximaldauer sollte unseres Erachtens aus Rücksicht auf Gesundheit, Schlafbedürfnis usw. 24 Stunden nicht oder nur wenig überschreiten, was einer Strecke von 500 bis 600 Kilometern entspräche, also gewiss lang genug ist, um die Qualitäten eines Distanzfahrers nachdrücklich unter Beweis zu stellen. Natürlich hängt die Festlegung der Strecke sehr von den Umständen ab. Eine Fahrt auf gutem, ebenem Terrain kann bei gleicher oder geringerer Anstrengung eine erheblich grössere Distanz umfassen als eine Strecke, die Gebirge überquert oder sich auf schlechten Strassen abspielt. Die von dem D.R.-B. geplante Fahrt Basel–Nymwegen beispielsweise, die etwa 650 Kilometer lang ist, wird zweifellos eine bessere Zeit und geringere Anstrengung erfordern als Mailand–München. Eine gewisse Mässigung ist jedoch unbedingt angebracht, da ärztliche Beobachtungen über mögliche nachteilige Folgen für die Gesundheit in der kurzen Zeit seit dem Beginn der grossen Distanzrennen noch nicht ausreichend gemacht werden konnten und gesundheitliche Schäden möglich erscheinen, wie angesichts der aussergewöhnlichen Beanspruchung der genannten Organe leicht nachvollziehbar ist.
Von besonderem Interesse sind die Untersuchungen, die der französische Biologe Dr. Tissier bei Stéphane angestellt hat. So war etwa im an jenem Tag von Stéphane ausgeschiedenen Harn so viel Gift enthalten, dass 10 Kubikzentimeter genügten, um ein Kaninchen von 1 Kilogramm zu töten. Hätte Stéphane nicht über die volle Funktionstüchtigkeit seiner Nieren verfügt, wäre ein Teil der Giftstoffe im Körper zurückgeblieben und hätte je ein Kilogramm seines Gewichts vergiftet.
Die Leistungen bei Distanzfahrten variieren natürlich stark in Abhängigkeit von der Streckenlänge, der Beschaffenheit derselben sowie der Art der Maschinen und Reifen. Bei der Beurteilung der erzielten Zeiten ist auch zu beachten, dass die grossen englischen Rekordfahrten auf einem verhältnismässig kleinen Stück der berühmten „North Road“ und einigen Nebenstrassen stattfinden und dass dabei ein und dieselbe Strecke mehrfach genutzt wird. Auch das Wetter und die Organisation des Schrittmacherdienstes spielen eine Rolle. Nachstehend geben wir eine Zusammenstellung verschiedener grosser Strassenrennen und Distanzfahrten, die für Sportfreunde wie für Aussenstehende von Interesse sein dürfte:
Aus den genannten Beispielen, die leicht um viele weitere ergänzt werden könnten, ergibt sich klar die gewaltige Leistungsfähigkeit des Fahrrads, die der des Pferdes weit überlegen ist und die Leistung eines Fussgängers um das Vier- bis Sechsfache übertrifft. Die Distanzfahrten haben einen hohen propagandistischen Wert für unseren Sport; diese Eigenschaft ist vielleicht ein ebenso wichtiger Grund für ihren Betrieb wie ihr sportlicher Wert.
Sie liefern zunächst einen klaren, für jedermann leicht erkennbaren und verständlichen Beweis für die Schnelligkeit und praktische Brauchbarkeit des Fahrrads. Auch wenn in puncto beeindruckender Geschwindigkeit die Distanzfahrten und das Fahren auf der Landstrasse nicht mit dem Bahnradsport verglichen werden können, fehlt der grossen Mehrheit des Publikums häufig das Verständnis für die Bewertung selbst der grossartigsten Leistungen. Weitaus einleuchtender ist es für die Menschen, wenn man ihnen sagt, dass die gefahrene Strecke 120 Wegstunden beträgt, die in 29½ Stunden bewältigt wurden, und sie die gefahrenen Zeiten mit denen der Eisenbahn vergleichen können. Dass Huret im „Bol d’Or“ in 24 Stunden fast 737 Kilometer zurückgelegt hat, ist dem Publikum im Allgemeinen gleichgültig. Dagegen zeigt es sofort Interesse, wenn es hört, dass ein Fahrer bei schlechtem Wetter in 29½ Stunden die Lombardei durchquert, die Alpen in einer Höhe von 1400 Metern überschritten und schliesslich die vorgelagerte Hochebene der Alpen erreicht hat; dass er dabei die Länder des Dreibundes, Italien, Österreich und Deutschland berührt und von der Metropole Norditaliens in die bayerische Hauptstadt gelangt ist.
Wie das Publikum durch die Distanzfahrten zu unserem schönen Sport hingeführt wird, so werden auch die zivilen und militärischen Behörden von den Vorteilen des Fahrrads in überzeugender Weise überzeugt. Besonders für den militärischen Nutzen des Fahrrads haben die Distanzfahrten (insbesondere Wien–Berlin) erfolgreich Werbung gemacht; das Rad ist seitdem für eine ganze Reihe militärischer Zwecke in Garnison und im Feld vorgesehen und wird, nachdem es einmal festen Fuss gefasst hat, schnell einen stetig wachsenden Wirkungskreis erobern. Auch beginnen die Behörden, das Fahrrad im Polizei-, Post- und Telegrafendienst zu nutzen, nachdem es bereits seit Jahren von den Strassenbaubeamten verwendet wird. Werden die glänzenden Ergebnisse der Distanzfahrten von den massgeblichen Behörden genügend beachtet und wird das Fahrrad von ihnen in vielen Dienstzweigen eingesetzt, so wird sich das Fahrrad bald die ihm gebührende allgemeine Anerkennung als vollwertiges Verkehrsmittel erobert haben und damit wird auch das Ende der lästigen Beschränkungen und Verbote näher rücken.
Schliesslich haben die Distanzfahrten auch insofern Nutzen, als sie die Fabrikanten, die der Konkurrenz begegnen und mit ihren Erzeugnissen Ehre einlegen wollen, dazu zwingen, sich auf den Bau leichter, schneller, aber dennoch zuverlässiger Maschinen zu konzentrieren. Die Hersteller werden dazu angeregt, in jeder Hinsicht ihr Möglichstes zu tun, immer Vollkommeneres zu bieten und dadurch ihrerseits dem Sport zu nützen.
Aus den vorstehenden Ausführungen glauben wir nachgewiesen zu haben, dass die Distanzfahrten einen durchaus unterstützungswürdigen, wichtigen Zweig des Radsports bilden und dass sie daher weiter gepflegt werden sollten, ihr Betrieb aber eifrig und mit weiser Mässigung zu handhaben ist! Dann werden sie dem Sport ohne Zweifel zum Nutzen gereichen!
Allgemeine Sport-Zeitung, 2. Februar 1895, S. 110-11.
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