Überblick
Vorwort
Diese Seite bündelt erstmals die zentralen Originalberichte zur Distanzradfahrt Mailand–München (1894) – die Augenzeugen-Texte von Hans Traugott Hirsch, Oswald Grüttner und Franz Gerger sowie den medizinischen Nachbericht von Dr. Speer. Wir lassen die Protagonisten der ersten Transalp selbst sprechen, belassen die historische Orthographie. Kein Feinschliff, kein Mythos-Zucker: so war’s. Warum das hier? Weil heutige Ultras nicht im luftleeren Raum stehen.
Die Texte zeigen, was Radfahren damals bedeutete: eine Ausdauerprüfung auf schlechtesten Straßen, mit Schiebepassagen, Stürzen und improvisierter Verpflegung. Sie tranken Wein, Selters oder Schnaps, aßen Suppe, Brot, Eier – nicht aus Genuss, sondern um weiterfahren zu können. Regen, Hagel und Schlamm gehörten dazu wie die Müdigkeit. Der Brenner war kein Symbol, sondern eine konkrete Mauer aus Kälte, Dunkelheit und Steigung.
Wer die Zeilen liest, erkennt sofort Parallelen zu heute: dieselbe Zähigkeit, dieselbe Konzentration auf das Nötigste, dieselbe Einsamkeit auf langen Kilometern. Der Unterschied liegt im Werkzeug und in der Deutung. 1894 war der Schnaps Mittel gegen Erschöpfung, heute sind es Gels und Elektrolyte; damals war Schieben Teil des Weges, heute gilt es als technischer Defekt. Um 1900 wurde das Publikum mit Telegrammen und mehreren Zeitungsaufausaben pro Tag auf dem Stand gehalten, heute erledigt dies Dotwatcher. Die Fahrer fuhren ohne GPS, ohne Begleitvan und Gepäckservice, ohne Membranjacken, und doch mit einem Bewusstsein für Distanz, das sich kaum verändert hat.
Gerade darin liegt der Wert dieser Quellen. Langdistanzen sind nicht neu, Distanzradfahrten haben auch im deutschsprachigem Raum eine lange Geschichte. Sie zeigen, dass Ausdauer, Pragmatismus und Haltung zeitlos sind – und dass jede moderne Langstrecke, ob mit Carbonrahmen oder Bikepacking-Tasche, auf denselben Grundelementen ruht: Körper, Kopf, Entscheidung.
Diese Berichte sind kein Showroom, sondern Fundament. Wer sie liest, begreift, dass das „Unsupported“ keine Mode ist, sondern nur eine andere Sprache für dasselbe Abenteuer.

Was ihr in den Texten bekommt:
- Hirsch (Teil I–III): Anreise, Grenz-Theater, Start in Mailand, Brenner bei Nacht, Sturz vor Sterzing. Nüchtern, detailreich, ohne Heldenton.
- Grüttner: Defekt, Regen, Schmutz, Brennerschnee, Verfolgung bis knapp hinter Hirsch. Zeitenliste inklusive – belastbar und konkret.
- Gerger: Sturz hinter Fischer, Kettenriss, Ersatzrad, zähes Durchkommen und das klare Urteil über die „bodenlose“ Schlussstrecke vor München.
- Dr. Speer: Medizinische Momentaufnahme im Ziel (Puls, Gewichte, Zustände). Ergebnis: trotz Hagel, Kälte, Schlamm – „vorzügliche Verfassung“.
Warum das zählt – auch heute:
- Realistische Bezugsgröße: 590–600 km, Brenner als Kernhürde, Wetter als Mitspieler. Die Berichte legen die Latte, an der ihr eure moderne Route (hochalpiner, einsamer, teils über 2200 m) ehrlich messen könnt.
- Material vs. Mensch: 11–16-kg-Räder, starre Übersetzungen, Wolle statt Membran – und trotzdem sub-35-Stunden-Zeiten. Kein Romantisieren, nur Respekt.
- Ambivalenz gehört dazu: 1894 war nicht nur Glorie. Es gab Proteste, Gerüchte um „Ziehen“, widersprüchliche Zeugnisse – und am Ende juristische Nachspiele. Mythos ohne Makel ist PR, nicht Geschichte.
Kurz: Lest die Quellen, nehmt sie ernst – und fahrt eure eigenen Distanzradfahrten mit klarem Blick: fordernd, schön, aber nie harmlos. München-Mailand ist vielleicht aktueller denn je.
Die Münchener Radfahrer-Woche
Aus: Radfahr-Humor, München, Juni 1894
Eine volle Woche dem Radsport gewidmet – München wird Sport-Großstadt! Leider fast eine volle Woche Regen; erst am Samstag klärte sich der Himmel und schenkte den Radfahrern noch einige Tage glänzenden Sonnenscheins.
Den Auftakt dieser großartigen Sportwoche bildete die internationale Distanzfahrt Mailand–München, unmittelbar gefolgt von der Feier des 25-jährigen Bestehens des Münchener Velociped-Clubs, der ältesten Radsportvereinigung der Welt.
Schon am Montag, dem 11. Juni, brachte die Distanzfahrt die sonst so bedächtigen Münchener in Aufregung. Der kühne Gedanke einer Fahrt von Italien über den 1 400 m hohen Brenner bis nach Bayern erregte das Interesse nicht nur der Radfahrerwelt, sondern auch des Laienpublikums. Als dann Se. kgl. Hoheit Prinzregent Luitpold sein Wohlwollen durch Stiftung eines prachtvollen Ehrenpreises bekundete und die Münchener Spitzenfahrer Fischer und Reheis als Favoriten gemeldet waren, erreichte die Spannung ihren Höhepunkt.
Ein vorzüglich organisierter Depeschendienst hielt das Publikum über jede Meldung auf dem Laufenden; Plakate verkündeten die Zwischenzeiten, Telegramme wurden öffentlich ausgehängt und von dichten Menschenmengen umlagert. Die Distanzfahrt war das Tagesgespräch der Stadt.
In Mailand standen 46 von 49 gemeldeten Fahrern bereits um sechs Uhr an der Porta Romana bereit. Erst um 7 Uhr 35 Minuten startete die erste Gruppe von Rogoredo. Eine jubelnde Volksmenge wünschte Glück; herrlicher Morgen, Sonne, Staub. Die deutschen Fahrer berichteten später einstimmig von der außergewöhnlichen Liebenswürdigkeit der italienischen Bevölkerung: an jedem Dorf standen Kirschen, Erdbeeren, Wein bereit, Blumen wurden geworfen, Jubelrufe begleiteten die Kolonne durch die Po-Ebene bis zum Brenner – bis vier Kilometer vor Bozen, wo ein heilloses Wetter losbrach und sie fortan in Regen und Kälte begleitete.
Allenthalben lobte man die vorzügliche Organisation der Erfrischungsstationen, den musterhaften Kontroll- und Schrittmacherdienst und das herzliche Entgegenkommen der Bevölkerung – in Italien ebenso wie in Tirol und Bayern.
In München hatte sich schon am Montagabend trotz des Wetters eine große Zahl Wissbegieriger im Schützenhaus Steinhausen eingefunden. Konzertmusik spielte, doch niemand hörte hin; man wartete fieberhaft auf Nachrichten. Erst mit dem Morgengrauen lichtete sich die Gesellschaft.
Am Dienstag, 12. Juni, meldeten große Anschläge: Fischer habe um 1 Uhr 10 Minuten morgens Brennerbad passiert – der Sieg schien sicher. Tausende zogen trotz Regens nach Steinhausen; Gendarmen konnten die Menge kaum zurückhalten. Gegen Mittag traf die Meldung ein, dass Fischer Kirchseeon passiert habe; kurz darauf kam er wirklich – strammes Tempo, Jubel, All Heil! ohne Ende. Mit Eichenkranz geschmückt, fuhr der Sieger direkt zur Kontrolle, dann ins Bad. „Hätt i nur an anders Wetta g’habt – in 26 Stund hätt i da sei müssen!“ soll er dort gesagt haben.
Etwa eineinhalb Stunden später erreichte Reheis das Ziel, ebenso frisch und umjubelt. Kurz danach folgte der Grazer Gerger (3 Uhr 46 Minuten), dann Hirsch vom Magdeburger Velocipeden-Club (5 Uhr 38 Minuten 30 Sekunden) – in bester Verfassung, trotz seines Unfalls bei Aßling. Ein Bauer hatte die Straße mit seinem Fuhrwerk blockiert und, als Hirsch vorbeifahren wollte, mit dem Peitschenstiel zugeschlagen. Der Schrittmacher gab drei Schüsse mit Platzpatronen ab, die Pferde gingen durch, der Wagen über Hirschs Rad; die Maschine zerstört, der Fahrer selbst unverletzt. Hirsch setzte die Fahrt auf dem Rad seines Schrittmachers fort. Der Täter wurde von der Gendarmerie festgenommen – ein Nachspiel war sicher.
Gegen Abend traf der erste Italiener Trifoni (7 Uhr 44 Min.) ein, von einer jubelnden Kolonie Landsleute empfangen; später folgten Costa (9 Uhr 26 Min.) und Heine (10 Uhr 40 Min.). Einige Fahrer übernachteten unterwegs. In der Nacht kam noch Reckzeh, der sich verfahren hatte und über Wasserburg nach Steinhausen fand. Alle innerhalb von 55 Stunden – eine Leistung, die damals Staunen auslöste.
Besonderer Dank galt dem unermüdlichen Telegraphenexpeditor Brummer und seinem Team, die den gewaltigen Nachrichtenverkehr prompt abwickelten.
Am Mittwoch, 14. Juni, endlich Ruhe: abends gesellige Zusammenkunft in der Isarlust. Den festlichen Abschluss bildete der Festabend im Kolosseum am Donnerstag, 15. Juni. Ein überfüllter, festlich geschmückter Saal, Musik der Kapelle Jäger, österreichische und italienische Weisen. Danach trat das Münchener Kindl auf – und sprach in seinem Dialektgruß an die „Herren vom Rad“:
(Vorgetragen beim Festabend im Kolosseum, 15. Juni 1894 – aus dem Radfahr-Humor, Juni 1894)
Jetzt wisst Ihr’s so ziemlich – frisch drauf nun dann!
Wer jetzt noch zurückbleibt, ist kein ganzer Mann.
Beim Rennen, da gilt’s, vorn dran sein und siegen –
Willkommen noch einmal! Jetzt geht’s zum Vergnügen.
Da wird jedem Renner ein Preis zuteil –
Stimmt ein mit mir alle: dem Radsport „All Heil!“Grüß Gott! Es hat mich sehr gefreut,
Als ich erfuhr zur rechten Zeit,
Dass in des Kolosseums Räumen
Ein seltnes Fest – da gab’s kein Säumen!
Für mich, und mit raschem Schritt,
Eilt’ ich hierher in Eure Mitt’.Nun, Gott zum Gruß, liebe Brüder und Schwestern vom Rade,
Wir kennen uns nicht erst seit gerade.
Sind alte Bekannte – gar manchen kenn’ ich, der vordem rannte,
Auf leichtem Rade die Bahn durchmaß,
Manche Meisterschaftsmedaille besaß.
Der hockt jetzt daheim, muss Kinder wiegen;
Man kann doch nicht stets auf der Rennbahn liegen.Im Winter, wenn draußen die Wege verschneit
Und das Radfahren keine besondere Freud’,
Da fand ich vom Sommer den feschen Renner
Als Saalfahrer – und als feiner Kenner
Der saubersten Madeln entpuppt sich der Mann,
Auch im Tanz hat er schneidig sich vorgetan.
Was da oft poussiert wird, ist nicht zum Beschreiben,
Die Radler werden’s wohl immer so treiben.Doch dass sie neben dem Wein und dem Lieben
Dem Radfahrsport treu geblieben,
Das hört’ ich erst neulich – und staunte sehr:
Jetzt fahren sie gar von Mailand her!
In einem Tage, hoch über den Brenner –
Alle Achtung! Das nenn’ ich Renner!Zwar möcht’ ich für mich ein solches Vergnügen
Nicht durchkosten – das Durchfliegen
Einer schönen Gegend ist ja recht nett,
Doch dreißig Stunden im Sattel – Sie, das is a G’frett!
Und denk’ ich den Hunger, den Regen, den Durst,
Vorbeifahren am Wirtshaus – kein Bier, keine Wurst,
Nur rennen und hetzen, tagein und tagaus –
Da bleibt mir beim Denken der Schnaufer fast aus.Von Mailand nach München – zehn Einkehr’n bloß,
Und da nur ein Beefsteak, und das ohne Soß!
Ein klein’s Glasl Wein, Limonade, Syphon –
Und das nennen’s nachher „Erfrischungsstation“!
Na, Freundln, da dank’ ich – da tu ich nicht mit,
Bleib’ sauber daheim, strapazier’ mich nit!Doch g’freut hat’s mich sakrisch, dass d’ jungen Leut’
Ham auf so a G’schicht a teuflische Schneid’.
Und gut is’ gangen – ich gratulier’!
Zum Dank gibt’s jetzt wieder Münchener Bier!Die erst’ Maß Bier nach so viel Plag –
Herrgott, die schmeckt, des is keine Frag!
Die trinkt nicht nur der Münchner gern,
Von dessen Durst man stets kann hör’n.
Könnt’ man da mal Distanzfahrt halten,
Manch schön’s Talent würd’ sich entfalten,
Und mancher Bruder aus dem Reich
Erwies sich da dem Münchner gleich.
Ein Sieger würd’ vielleicht erkoren,
Der nicht in Bayern ward geboren.Und von dem Rennen, hab’ ich gehört,
Habt Ihr Freunde mitbracht, gar lieb und wert –
Aus Italien, aus Deutschland, aus Österreich,
Recht so, Ihr Radler, das freut mich von Euch!Gott grüß Euch, Ihr Herren, seid herzlich willkommen!
Als Freunde seid freudig Ihr aufgenommen.
Lasst Euch’s wohl sein bei uns in der Münchner Stadt –
Nochmals: Grüß Gott, Ihr Herren vom Rad!Weilt gern und lang in meinen Mauern,
’s gibt viel zu sehen – nicht nur für Bauern!
Nein, im Gegenteil – gerade für Herren von Geschmack:
Da ist zum Beispiel die Galerie Schack,
Die Glyptothek und das Hofbräuhaus –
Auch auf die Keller dürft Ihr hinaus.
Ins Hoftheater zum „Lohengrin“,
Dann müsst Ihr zum Schyrenplatze ziehn,
Wo der älteste Velociped-Club der Welt
Ein fröhlich Jubiläum hält.Aber vorsichtig sein müsst Ihr in der Stadt,
Wenn Ihr sie besichtigt auf Eurem Rad.
Ein Gürtel von Straßen sie eng umschließt,
Wo der Radfahrer Freiheit nicht mehr genießt.
Es schreibt ihn da auf, ohne Gnad’ und Pardon,
Der Herr Gendarm – zur Exekution!
Nur so Ihr zu Mars, dem Kriegsgotte, schwört,
Er das Radeln im Innern Euch auch nicht verwehrt.
Mit diesem Augenzwinkern endete eine Woche, die München zur Hauptstadt des europäischen Radsports machte – und die Distanzfahrt Mailand–München zum Mythos.
Erlebnisse eines Distanzradfahrers: Von Hans Traugott Hirsch

Leipzig, den 19. Juni 1894.
Es war wenige Tage vor Nennungsschluss, da lag ich noch friedlich auf meinem Lotterbett und dachte nicht daran, dass es mir vergönnt sein würde, an dieser internationalen Distanzfahrt teilzunehmen. Sie interessierte mich wohl lebhaft – führte doch der größte Teil des Weges durch jene herrliche Gegend, für die seit drei Jahren eine Urlaubstour fertig durchgearbeitet im Schranke lag – aber da ich erst seit kurzer Zeit in einem neuen Wirkungskreise thätig war, glaubte ich nicht, dass mir ein Urlaub genehmigt würde.
Der Störenfried meines Seelenfriedens war mein Freund, Club- und derzeitiger Hausgenosse Willy Tischbein, der sein Rennbahn-Training hier durchmachte:
„Hans Traugott, warum Ihr eigentlich nicht mitfahrt, verstehe ich nicht!“
„Ja, Kleiner, das geht halt nicht; Urlaub kann ich nicht nehmen, die neue Rekordmühle ist auch noch nicht da, also muss ich hier bleiben.“
„Na, Ihr könntet doch wenigstens mal versuchen, ob’s mit dem Urlaub nicht geht, denn wegen Maschine braucht Ihr Euch nicht zu sorgen – dafür wird schon Rat geschafft!“
Nun – mit dem Urlaub ging’s gut. Als Stichprobe fuhr ich am 27. Mai noch eine Tour von 325 km in 17 Stunden, 240 km in 11 Stunden 55 Minuten; so wurde denn gemeldet, und am Sonnabend, den 2. Juni abends, gab’s auf dem Bayerischen Bahnhof in Leipzig ein „Fröhliches Wiedersehn“.
Tischbein und Paul Brodtmann fuhren als Schrittmacher mit nach München; unterwegs wurden die schönsten Pläne geschmiedet, wie wir die Strecke abfahren und die herrliche Gegend genießen wollten. In München begaben wir uns zum Radfahr-Humor, traf aber sonntags keinen Redakteur, dann zum Haupt des Komitees, Herrn Tochtermann sen., der uns eingehend instruiert, wie „schön alles bezüglich der Zollangelegenheiten“ laufen werde – was sich später als Täuschung erwies.
Vom Tochtermann aber Trab-Trab ins Hofbräuhaus – der Durst war da und fand auch seine Befriedigung! Dann aber litt es mich nicht mehr in den Mauern der Stadt; ich hatte zuvor einen Lichtblick auf die Schneegipfel im Süden erhascht. Die Schrittmacher, deren Maschinen noch nicht angekommen waren, befanden sich in guter Obhut bei Gauvorstand Rittinger. So wurde denn auf den bewährten Rat hin bis Rosenheim mit dem „Großen Bruder“ Freundschaft geschlossen, und um ¾ 6 Uhr zog ich einsam meine Straße gen Kufstein – wie weit, wusste ich nicht.
Es ging „schuh schön“, wie wir sagen. Das Wetter hell, ein leichter Rückenwind, die gewaltige Kaisergebirgs-Kulisse – trotzig, das Tal scheinbar versperrend. In Kufstein glatt Zoll-Erledigung, dann nach einem Abendbrot weiter in den Dämmer. Kurz vor Kundl Laterne an, die Straße rillig – also Übernachtung beim Neuwirt. Bier und Bett gut, scheußlich billig.
Am nächsten Morgen, 6 Uhr, wieder im Sattel. Innsbruck – Frühstück und Postkartenpause, dann an den heiklen Punkt der Tour: den Brenner. Und siehe da, es ging besser als gedacht, nur kurz vor Brennersee zehn Minuten Schieben, sonst glatt hinüber nach Sterzing, wo ein Mittagmahl die Anstrengung belohnte. In Brixen kurze Kaffeepause mit einem Münchener Kollegen und zwei Italienern, dann weiter durch Klausen – Waidbruck gen Bozen.
Zehn Kilometer vor Bozen noch eine Stunde Reparatur an der Pneumatik, dann weiter – aber nicht ohne einen Abstecher nach Meran, von dessen Schönheit ich so viel gehört hatte. Es waren nicht 15, sondern fast 30 km – und heiß! Dort ein Bad, ein kräftiges Abendmahl und ein beschaulicher Abendschoppen im „Löwenbräu“. Am nächsten Morgen früh zurück auf die Hauptroute.
In Trient Mittagspause und Flußbad mit einem liebenswürdigen Oberlieutenant, dann weiter nach Ala – Grenze! Bei Borghetto noch glatt, aber in Peri zieht mich die Zollwache ab – „Una escorta!“ – und ich marschiere vierzig Minuten in der Sonne neben meinem Rad. Mit Hilfe von Signor Parisi geht’s endlich weiter nach Verona, wo ich übernachte. Am folgenden Tag Brescia – Mailand, und hier sammeln sich alle Teilnehmer.
Der Start
Mit dem kleinen Heine von Hannover zum Frühstück bei Signor Carlo Glockner, deutscher Gemütlichkeit und italienischem Risotto zugleich. Dann Maschinencheck und Abendessen bei Savini in der Galleria. „Stille wird es nach und nach, Friede herrscht im Schlafgemach.“
Montagmorgen, 11. Juni, 5 Uhr: Versammlung Corso Porta Romana. Wer klug war, kam erst ¼ 7. Startaufstellung in Rogoredo. Wenig Publikum, viel Staub. Die Italiener wollen bis Bozen ein Mördert-Tempo fahren – doch die Deutschen halten mit. Ich hänge hinten in der Führungsgruppe, staubfrei auf der Seite. Nach 55 km holen Fischer und Costa auf – trotz fünf Minuten Startabstand! Das Tempo steigt brutal, ich lasse abreißen, bleibe aber im Rhythmus.
Mit Kotsch und Grüttner bilden wir eine zweite Gruppe, später stößt Münder dazu. Castelnuovo: Suppe, Eier, Kaffee, Rotwein mit Selters – „armer Magen!“ Weiter durch Trient, Salurn, immer flott. Grüttner führt fast ständig. Bei Dolce fällt Kotsch mit Seitenstechen aus, Münder hält nicht durch. In Trient jubelndes Publikum, in Brixen kurze Rast.
Ich fahre allein weiter. Erfrischungsstation zwischen Weinbergsmauern, Obst und Wein, ein Paar Mädchen – „Heil euch und Gruß für und von uns allen!“ Ein Glas Gieshübler mit Wein – tat gut. Vor mir Costa und Trifoni, Bozen in Sicht. Mit Trifoni weiter nach Blumau, Laternen an, ich kenne die Strecke im Dunkeln und ziehe weg. Klausen, Brixen – zwei Minuten hinter Gerger. Dann der Anstieg.
Bei Nacht 3 Stunden 20 Minuten bis Sterzing – 30 Minuten mehr als bei der Probefahrt. Vor Sterzing Sturz: eine Täuschung durch einen Erdhügel, der aussah wie Straßenverlauf; Laterne verbeult, Sattel gerade – weiter!
Über den Brenner und heimwärts
Durch Sterzing hindurch – nun an die Schieberei. Es ist öde und langweilig, in der Nacht allein eine solche Tour zu bewältigen; hier zwischen Sterzing und Brennerhöhe waren Schrittmacher am allernotwendigsten, aber außer denen, die sich die Fahrer selbst besorgt hatten, wurde keiner erblickt. In Gossensass bietet der Posten nur Schnaps – jeder nach seinem Geschmack. Endlich die Höhe! Vermummte Gestalt weist mich in den Garten, Fackeln blenden – ich stürze fast in den Zaun. Doch drinnen trockene Kleider und Ruhe. Ich warte das Morgengrauen ab – genug Abenteuer für eine Nacht.
Die Talfahrt spät am Morgen: aufgeweichte Straßen, Schönberger Serpentinen im Schlamm. Ich bewundere die Waghalsigen, die hier bei Nacht hinunter sind. Innsbruck erreicht. Natürlich regnet’s. Ein Münchener führt mich bis zur Brücke, dann allein weiter nach Hall. Man rutscht – am sichersten in den Reifenspuren voll Regenwasser. Schön war’s nicht, aber vorbei.
Keine Schrittmacher bis Schwaz, Rattenberg – nichts. In Wörgl werde ich stumpf und verdrießlich, da erbarmt sich ein Innsbrucker und fährt mich bis Kufstein. Von da auf besserem Wege nach Rosenheim; ein paar Grüße „All Heil!“ aus den Wirtshäusern – aber keiner macht Schritt. Endlich ein offizieller mit roter Binde – nun läuft’s. Rosenheim – Mittagspause, essen, trinken; Gerger vor etwa einer Stunde durch. Mein Schrittmacher Otto vom M. R. V. führt weiter, wir rechnen mit Ankunft 5 Uhr in München.
Dann der Zwischenfall bei Aßling:
Ein Fuhrwerk versperrt den Weg. Mein Schrittmacher ruft freundlich, der Bauer rückt nicht, zieht die Pferde rüber. Ich steige ab – und bekomme mit den Worten „Wart’, ihr Lausbuabn!“ einen Hieb mit dem Peitschenstiel über den Kopf. Ich greife nach dem Stiel – da fährt der Wagen über mein Rad. Mein Schrittmacher, in Angst, schießt mit Platzpatronen in die Luft, die Pferde gehen durch, ich komme beinahe unter die Räder. Der Bauer flieht, läuft aber direkt einer Patrouille in die Arme. – Der „Held“ hieß Peter Eichner, Bierbrauer von Karolinenfeld.
Wir nehmen Schadensaufnahme vor, richten die Schrittmachermaschine her und fahren weiter. Dann bricht ein Wetter los, wie aus Eimern; bergauf, bergab, bis Grafing, wo ein Bavaria-Schrittmacher auf mich wartet. Langsam vorwärts auf unsagbar schlechtem Weg, dann die schlimmste Strecke bei Haar. Endlich kommt meine Ersatzmaschine – mein altes Adlertier Nr. 12 von Wien-Berlin. Jetzt noch das Pflaster, dann jubelnde Menge: Ziel!
Steinhausen (München), 12. Juni 1894, 17 Uhr 38 Min 30 Sek.
Vierter im Ziel, wohlauf. Der Arzt staunt, wie gut ich noch bin. Massage, Tee mit Rotwein, Plaudern mit Grüttner, dann Hotel und traumloser Schlaf.
„Den biederen Münchnern allesamt und den schönen Bergen Tirols aber werde ich ein treues Andenken bewahren – und mit ihnen hoffentlich noch oft ein fröhliches Wiedersehen feiern. Grüß Gott und All Heil!“
Erlebnisse eines Distanzradfahrers: Von Oswald Grüttner
Etwas aufgeregt, dass sich der Start, der am 11. Juni um 7 Uhr früh sein sollte, bedeutend verzögerte, brachte ich endlich um 7 Uhr 35 Minuten 5 Sekunden früh auf das Kommandowort „Avanti!“ mein Rad in Gang.
In eine ungeheure Staubwolke gehüllt, konnte ich nicht gleich sehen, wer vor mir in schärfster Pace losging; außerdem aber hatte ich mir vorgenommen, mich nicht an der Hetzerei vorne zu beteiligen, sondern in einem möglichst ruhigen, gleichmäßigen Tempo loszufahren. Ich bin damit bisher am weitesten gekommen, und auch diesmal bewies mir mein Erfolg, dass ich Recht hatte.
Trotz des wirbelnden Staubes und des bis Brescia durchaus nicht guten Weges brauchte ich bis dorthin (92 km) doch nur 3 Stunden 25 Minuten, was mir anzeigte, dass ich immerhin ein 30-km-Tempo gefahren hatte, bei Seitenwind, schwüler Hitze und erstickendem Staub. Die Italiener mit ihren Rennmaschinen waren auch erst zehn Minuten weiter.

Nach einer Viertelstunde setzte ich mich wieder aufs Rad, hinter mir her Hirsch und Kotsch. Bald holten wir zusammen Münder ein, der sich uns anschloss. In Castelnuovo wurde eine kurze Rast gemacht, und weiter ging’s.
Bald hatten wir wieder zwei von den eiligen Italienern überholt, was in mir eine derartige Freude erweckte, dass ich das Tempo verstärkte. Auch hinter mir wurde es weniger. Mein Freund Kotsch war nicht mehr zu sehen. Bald war Peri erreicht und nach Erledigung der Zollangelegenheiten passiert. Dieselbe Sache wiederholte sich in Borghetto, wo einige Erfrischungen eingenommen wurden.
Hier schloss sich uns auch Schlink, Schrittmacher für Münder, an, und da ich mich sehr zum Fahren aufgelegt fühlte, ging’s schnell vorwärts. Als ich aus Ala herauskam, war nur noch Hirsch hinter mir. 20 km vor Salurn wurde mir plötzlich das Treten schwerer und schwerer, ich musste zu meinem großen Bedauern Hirsch weglassen und absteigen. Mein Hinterreifen war weich geworden.
Zitternd vor Ärger machte ich mich daran, die Ursache zu entdecken. Ein kleines Stückchen Nadel war der infame Gegenstand meines Zeitverlustes. In zehn Minuten war mein Kontinental-Reifen repariert und ich begann wieder Luft einzupumpen. Unbeschreiblich war meine Aufregung und mein Ärger, als er nicht hielt. Ich schob rasch zum dicht dabeiliegenden Gehöft, ließ Wasser in einen Zuber gießen und sah nach – ich hatte in der Eile schlecht geklebt und machte mich nochmal an die Arbeit. Nach 40 Minuten war ich endlich zum Aufsitzen fertig, und in noch nie von mir gefahrenem schnellen Tempo fuhr ich nach Salurn, wo ich gerade eintraf, als Hirsch abfuhr. Ich nahm ein leichtes Bad und setzte nach nochmaligem halbstündigen Aufenthalt meinen Weg allein fort.
Inzwischen war ein schweres Gewitter aufgezogen, und der sturmartige Gegenwind ermöglichte ein nur langsames Fortkommen. Dazu die immer mehr aufweichenden Wege, die mein Rad oft bis einen halben Fuß tief einsinken ließen. Gänzlich durchnässt und zitternd vor Kälte traf ich gegen 9 Uhr in Bozen ein, wo ich Costa, den zweiten der noch vor mir befindlichen Italiener, holte. Hirsch, mein vorläufig heiß ersehntes Ziel, war auch hier schon weg.
Nach kurzem Aufenthalt fuhr ich in Begleitung von Brodtmann in die schauerliche Finsternis hinein; die bald rechts, bald links von mir fließende, reißende Eisack, die hohen, dicht beieinander stehenden Felswände, die tiefe Finsternis und der starke Regen verbunden mit heftigem Gegenwind, machten einen unheimlichen Eindruck.
Ab und zu stürzte einer von uns beiden in den Schmutz, hin und wieder ging’s durch die quer über den Weg laufenden angeschwollenen Bäche, und wir kamen bis übers Knie ins Wasser.
In Klausen war auch der letzte Italiener anwesend – Trifoni –, der eingeschlafen war. Ich ließ ihn selbstverständlich schlafen, und voll grimmiger Freude darüber ging’s wieder hinaus in die Finsternis, in den Regen und in den Schmutz.
Endlich war Brixen erreicht, wo ich leider lange auf einige Erfrischungen warten musste, sodass plötzlich Trifoni vor mir stand, der von Klausen gleich hinter mir weggefahren war. In Begleitung eines Münchener Schrittmachers ging’s nun auf den Brenner, immer im Regen und tiefen Schmutz. Ich versuchte, dem hinter mir wie eine Klette haftenden Trifoni mehreremale wegzulaufen, doch mit meiner schweren 16-kg-Maschine mit 63″-Übersetzung musste ich diese Versuche als nutzlos aufgeben. Trifoni hatte in Bozen das Rad gewechselt und fuhr eine 11-kg-auf-56″-übersetzte Adler, war also mir gegenüber bedeutend im Vorteil.
Kälter und kälter wurde es; in meinen Füßen war längst jedes Gefühl abgestorben, ebenso in den Fingerspitzen. Auf dem Brenner war Schnee gefallen. In Sterzing begann es allmählich Tag zu werden. Die letzten und schwersten 11 km wurden in 1¾ Stunden zurückgelegt. Kurz vor Brennerbad fuhr mir Trifoni davon und drückte mit unheimlicher Energie das letzte Ende des Berges hinauf. Er kam so zwei Minuten früher an. Das reizte mich derart, dass ich ohne den geringsten Aufenthalt von der Station abfuhr und nach zweistündigem schweren Fahren in Innsbruck, 6 Uhr 8 Minuten früh, im tollsten Regen und immer tiefer werdenden Schmutz eintraf.
Ein schreckliches Stück Arbeit war noch die Strecke von Innsbruck nach Hall, wo ich einmal übers andre stürzte. Auch das wurde überwunden und endlich war Wörgl erreicht. Hirsch war ich bis auf eine Stunde näher gekommen. Ich selbst war nicht im geringsten ermüdet, vielmehr hielt mich das nasse Wetter frisch und munter. Von dem Gedanken beseelt, dass ich Hirsch noch einholen könne, eilte ich weiter, jetzt wieder in Begleitung eines Schrittmachers.
Kufstein wurde passiert, in Kiefersfelden meine Zollangelegenheit schnell geordnet, und als ich in Rosenheim eintraf, hatte ich die Freude, nur 1½ Stunden hinter Hirsch zu sein – also schnell weiter!
Jetzt begann allerdings ein ganz entsetzliches Stück Weg; dazu sturmartiger Wind von vorn, abwechslungsweise Hagel- und Gewitterschauer – alles dies war fast zum Verzweifeln. Dazu riss meinem letzten Schrittmacher Brodtmann die Kette hinter Ostermünchen, gerade als ich bis auf vier Minuten an Hirsch herangekommen war. Ich stürzte auch noch und verbog das linke Pedal derartig, dass es unbrauchbar wurde. Dies hielt mich wieder zehn Minuten auf. Allein dem Wind und Wetter ausgesetzt, musste ich die Verfolgung zu meinem großen Bedauern aufgeben und allein ruhig meinen Weg, so gut es ging, fortsetzen.
Nach noch mehreren leichten Stürzen konnte ich endlich München erblicken, und meine letzte volle Kraft einsetzend, erreichte ich unter kaltem Hagelschauer das Ziel Steinhausen – zehn Minuten hinter Hirsch – als Fünfter.
Frisch und munter war ich angekommen und wurde sogleich gewogen. Allerdings lag die Zunahme des Gewichtes auf dem Rücken, an den Hosen, Strümpfen und Schuhen, die vorher nur drei bis vier Kilogramm wogen, jetzt aber durch Wasser und Schmutz das respektable Gewicht von zehneinhalb Kilogramm erreicht hatten.
Hier meine Ankunfts- und Abfahrtszeiten:
11. Juni
Abfahrt Mailand: 7:35:05 früh
Ankunft Brescia: 11:04:00 früh (Aufenthalt 16 Min.)
Abfahrt Castelnuovo: 3:00:00 nachm. (Aufenthalt 10 Min.)
Borghetto: 3:10:00 nachm.
Salurn: 6:14:00 nachm. (Aufenthalt 28 Min., vorher Reparatur 40 Min.)
Bozen: 12:15:00 nachts (Aufenthalt 15 Min.)
12. Juni
Brixen: 12:37:00 früh (Aufenthalt 22 Min.)
Sterzing: 2:10:00 früh
Brenner: 4:01:00 früh (Aufenthalt 1 Min.)
Innsbruck: 6:08:00 früh (Aufenthalt 17 Min.)
Wörgl: 10:28:00 früh (Aufenthalt 17 Min.)
Rosenheim: 1:52:00 nachm. (Aufenthalt 13 Min.)
München (Ziel): 5:54:50 abends
Summe des Aufenthaltes: 2 Stunden 39 Minuten
Fahrzeit: 34 Stunden 19 Minuten 45 Sekunden
Wirkliche Fahrzeit: 31 Stunden 40 Minuten 45 Sekunden.
Erlebnisse eines Distanzradfahrers: Von Franz Gerger
Bis Brescia ereignete sich nichts Bemerkenswertes; das Wetter war schwül, und wir waren noch eine größere Anzahl von Fahrern in einer Gruppe beisammen.
Von Brescia ab waren Fischer, Reheis, Sorge und ich allen anderen voraus; vor Castelnuovo ging es in sehr scharfem Tempo, Fischer voran.
Da stoppte Fischer plötzlich, und ich, im scharfen Tempo, fuhr in seine Maschine; Sorge, Fischer und ich stürzten. Ich wurde heftig zu Boden geschleudert, dass mir einen Moment alles grün und blau vor den Augen war; trotzdem fuhr ich mit meinen Konkurrenten weiter bis gegen Ala.
Ein entsetzlicher Kopfschmerz hinderte mich fast am Weiterfahren; ich nahm einige kalte Douchen. Fischer und Reheis fuhren indes weiter.
In Salurn war ich Fischer und Reheis indessen wieder auf der Ferse; leider konnte ich aber nicht lange mithalten, da mir die Kette an meiner Maschine zwischen Salurn und Bozen riss.
Nun musste ich eine Stunde während des heftigsten Sturmes zu Fuß marschieren, bis ich in Branzoll einen Fleischer traf, der mir sein Rad zur Verfügung stellte, auf dem ich nun meine Fahrt bis Bozen fortsetzte.
In Bozen vertauschte ich das fremde Rad mit einer Reservemaschine, die ich dort aufgestellt hatte, und fuhr in Begleitung von Schrittmachern bis zur Brennerhöhe.
Die Straßen waren schon sehr aufgeweicht, das Fahren daher sehr schwierig; gleich schlechte Straßenverhältnisse von der Brennerhöhe nach Innsbruck.
Von Innsbruck weg ging es dann kaum fahrbar bis Hall und dann etwas besser gegen Rosenheim.
Von Wörgl weg wurde mir einigemal unwohl – die Folge eines schlechten Getränkes –, ich musste die Fahrt unterbrechen.
Dieses Übelbefinden besserte sich erst nach einem kräftigen Schluck Cognac, den mir ein Herr in liebenswürdiger Weise reichte.
Von Rosenheim nach München sind nur 60 Kilometer, doch war dies die schlechteste Strecke, die ich je auf allen meinen Radtouren gefunden; mit einem Wort: die letzten zehn Kilometer bodenlos, fast unfahrbar.
Mir wäre ein zweitmaliges Passieren des Brenners lieber gewesen, als die Fahrt auf dieser Strecke von Rosenheim nach München.
Gegen Ende der Fahrt wurde ich zum größten Überfluss noch von einem heftigen Hagelwetter überrascht und bis zum Ziel begleitet, wo ich mit tausendstimmigem „All Heil!“ begrüßt wurde.
Nach München geeilte Clubgenossen vom Grazer Radfahrer-Club, an ihrer Spitze Obmann Koneczny, begrüßten und beglückwünschten mich dort herzlich.
Ich möchte bei dieser Gelegenheit nicht unterlassen, mit dem größten Lobe der verschiedenen Kontroll- und Erfrischungsstationen und ihrer vorzüglichen Einrichtungen zu gedenken.
Aus dem ärztlichen Jourzimmer der Distanzfahrt Mailand–München von Dr. Speer
Wenn ich nachfolgend eine Tabelle über die Maße und Gewichte der ersten sechs in München angekommenen Teilnehmer der Distanzfahrt Mailand–München bringe, so kann dieselbe nur einem allgemeinen Interesse dienen.
Zu einer streng wissenschaftlichen Untersuchung fehlte es auf dem Festplatz an genügend großen und ruhigen Räumen und bei den angekommenen Siegern sowohl wie beim Publikum, das sich vor den Pforten des Bade- und Untersuchungszimmers drängte, an der nötigen Geduld.
Doch erscheint es bei der großen Teilnahme, welche der Distanzfahrt entgegengebracht wurde, jedenfalls von Interesse zu erfahren, in welchem Zustande denn eigentlich diese Menschenkinder, welche zwischen 30 und 40 Stunden ununterbrochen im Sattel gesessen hatten und den 600 Kilometer langen Weg mit fast Bahnzugsgeschwindigkeit zurückgelegt haben, nach dieser Fahrt unter dem glühenden Sonnenbrand der Poebene, durch Wolkenbruch und kalte Nacht auf hohem Bergesgipfel und durch strömenden Regen und starken Gegenwind auf den schlechten, durchweichten Straßen der bayerischen Hochebene endlich in München ankamen.
Da kann nun vor allem konstatiert werden, dass sämtliche von mir und meinem Kollegen Herrn Dr. Wacker untersuchten Fahrer – in Anbetracht der großen Schwierigkeiten, die sie überwunden hatten – in einer geradezu vorzüglichen Verfassung eintrafen.
Kein einziger benötigte irgendwie ärztlicher Hilfe; bei keinem zeigte die Pulszahl sich nach oben oder unten bedeutend verändert, oder der Puls in seiner Qualität stark mitgenommen.
Er war bei allen genügend kräftig; die Atmung war ruhig und gleichmäßig – ich kann sagen, ich bin nicht leicht von dem Ergebnis einer Beobachtung so überrascht worden.
Mit Fischer, der infolge eines schweren Sturzes bei Brescia eine heftige Prellung des rechten Knies erlitten hatte, das sich später als bedeutend geschwollen und empfindlich erwies und den das Publikum bei seiner Ankunft im Gedränge beinahe erdrückt hätte, ging ich zuerst so vorsichtig um, als wenn er von Porzellan wäre.
Nachdem ich aber gesehen hatte, dass er allein über den hohen Rand der Badewanne steigen konnte, und als ich hörte, wie er in seinem behaglich warmen Bade meinte, er könne jetzt gleich wieder weiterfahren, konnte ich ihn ruhig seinem weiteren Schicksal überlassen.
Nur habe ich darauf gedrungen, dass er sich nach dem Massieren einige Stunden ausruhe, ehe er sich den Ovationen des Publikums aussetze; er hat diesen Rat befolgt und schlief nach dem Genusse seines beliebten Milchkaffee etwa anderthalb Stunden wie ein Murmeltier.
Als ich ihn später wecken wollte, kam er mir schon entgegen und blieb bis zum späten Abend vergnügt und frisch im Kreise der Sportgenossen.
Von den übrigen Fahrern ging Reheis sofort nach dem Bade und dem Massieren in den Saal; auch er war sehr frisch, doch spannte ihn die Unruhe der aufgeregten Menge bald ab, sodass ich ihm empfehlen musste, sein Hotel aufzusuchen.
Gerger rauchte behaglich im Bade eine ihm gebotene Havanna, die er auch beim Massieren nicht fortlegte.
Hirsch, der überhaupt der weitaus frischeste aller Angekommenen war – was er dem Umstande zuschrieb, dass er sich genügend Zeit zum Essen und Trinken gelassen hatte – nahm zu seiner Erfrischung eine kalte Douche.
Auch Oswald Grüttner und Trifoni zeigten sich nach all den Anstrengungen gut disponiert.
Was die Herren alles mitzuschleppen hatten, erhellt aus einer Wägung der Kleider der letztgenannten:
Grüttners Joppe und kurze Hose wogen 9 Kilogramm, der ganze Anzug Trifonis, der übrigens mit langer Hose fuhr, zehneinhalb Kilogramm – gewiss eine respektable Gewichtszunahme durch Wasser und Schmutz!
Es gehören kolossale Wärmemengen dazu, einen Körper in dieser Umhüllung warm zu erhalten, doch kamen die Fahrer relativ frisch und munter an und konversierten im Badezimmer, als wären sie bloß gelegentlich einer kleinen Nachmittagstour eingeregnet.
Besonders lebhaft war Grüttner, der etwas später mit köstlichem Humor sich in dem Kostüm eines ausgewachsenen, vierstöckigen Münchener Hausherrn zu zweieinhalb Zentnern bewegte, in das man leicht drei Radler vom Kaliber Grüttners hätte hineinstecken können – für ihn hatte es wenigstens den Vorteil der Trockenheit.
Zu den Zahlen der Tabelle brauche ich wohl nichts hinzuzufügen – sie sprechen für sich selbst.
Erwähnen will ich nur noch, dass bei sämtlichen Fahrern die Bindehaut der Augen durch Wind, Wetter und Staub gerötet und entzündet war, und dass sich durch das krampfhafte Halten der Lenkstange, das durch Regen und schlechte Wege notwendig wurde, eine hochgradige Unempfindlichkeit und Steifheit der Finger herausgebildet hatte, die sich jedoch nach einigen Stunden wieder verlor.
Auch beklagten sich die meisten Fahrer über Kälte, was an jenem Tage kein Wunder war – das Kältegefühl verschwand bei allen nach dem Bade und dem Anlegen trockener Kleider rasch.
Irgendeine Störung an ihrer Gesundheit hatte keiner der Teilnehmer erlitten.
Überhaupt glaube ich bei dieser Gelegenheit konstatieren zu müssen, dass in einem Zeitraum von 15 Jahren, den ich beobachtet habe, bei der großen Summe mir bekannter Rennfahrer, deren Gesundheitsverhältnisse ich soweit als möglich verfolgte, die von verschiedenen Seiten für diese Sparte unseres Sportes vorausgesagten Schädlichkeiten ausgeblieben sind – womit nicht gesagt sein soll, dass nun jeder gleich sich dem Rennsport vertrauensvoll in die Arme werfen müsse.
Unsere Beobachtungen im Jourzimmer zu Steinhausen beweisen, dass bei Beobachtung der nötigen Regeln und Vorbereitungen der Mensch imstande ist, auf dem Rade die größten Anstrengungen ohne Schädigung seiner Gesundheit zu überwinden.
Ein Sport, der eine so große Reihe tüchtiger und gewandter, willenskräftiger und ausdauernder Fahrer hervorbringen konnte, muss dem Körper zweckdienlich sein; er wird ihn gesund machen und frisch und gesund erhalten.
Zusammenstellung der Messungen und Gewichte (bei Ankunft in München):
Nr. Name Alter Größe (cm) Gewicht mit Kleidern (Pfd.) Halsumfang (cm) Schulterbreite (cm) Brustumfang bei voller Einatmung (cm) Bauchumfang (cm) Schenkelumfang (cm) Wadenumfang (cm) Pulszahl
1 J. Fischer 31 173,5 171 38,5 45 101 97 55 40 84
2 M. Reheis 25 133 151 36 39 92 97 69 47 72
3 F. Gerger 28 175,5 143 35,5 42 85 92 74 50 88
4 H. Tr. Hirsch 33 179 126 37 45 88 92 76 54 100
5 O. Grüttner 23 168 126 33 42 77 80 67 49 92
6 C. Trifoni 21 168 121 33 40 81 87 67 49 6
Glossar
Sehr gut, Tim — hier ist ein kompaktes Glossar zu den Originalberichten „Distanzradfahrt Mailand–München 1894“, so dass Leser:innen historische und sportliche Begriffe, Orte und Personen schnell einordnen können.
Ich hab’s so formuliert, dass es direkt ins WordPress-Layout passt (z. B. als ausklappbare Box oder Liste unter dem Artikel).
Glossar zur Distanzradfahrt Mailand–München (1894)
All Heil
Grußformel der Radfahrerzeit um 1900, vergleichbar mit „Sport frei“ oder „Ride on“. Ausdruck kameradschaftlicher Anerkennung und sportlicher Solidarität.
Brenner / Brennerhöhe
Gebirgspass zwischen Italien und Österreich (1 374 m), zentrale Hürde der Distanzfahrt. 1894 unbefestigt, teils grober Schotter, Kälte und Schneefall selbst im Juni.
Depeschendienst
Telegrammnetz, über das Zwischenstände der Fahrer von Kontrollstellen an die Tagespresse oder nach München übermittelt wurden – das damalige „Live-Tracking“.
Distanzfahrt / Distanzradfahrt
Langstreckenrennen über mehrere hundert Kilometer auf öffentlichen Straßen. Im Unterschied zu Bahnrennen ging es nicht um Rundenzeiten, sondern um Ausdauer, Navigation und Selbstorganisation.
Ersatzmaschine
Zweitrad, das an einer Station hinterlegt werden durfte – meist mit anderer Übersetzung für Bergpassagen. Nur bei offiziellen Distanzrennen erlaubt.
Erfrischungsstation
Vordefinierte Punkte zur Nahrungsaufnahme und Kontrolle der Fahrer. Dort wurden Unterschriften, Zeitstempel und häufig Speisen (Suppe, Wein, Wasser, Brot, Eier) gereicht.
Fackelmann / Signor Parisi / Tochtermann
Zeitgenössische Funktionsträger der Organisation: Fackelmann (bayerischer Radsportfunktionär), Parisi (italienischer Kontaktmann am Zoll), Tochtermann sen. (Oberhaupt des Münchner Komitees).
Fixe Übersetzung / Starrgang
Räder ohne Gangschaltung oder Freilauf. Trittbewegung war direkt mit der Radbewegung gekoppelt – Bremsen meist über Gegendruck oder Fußbremse.
Kaisergebirge
Gebirgsmassiv in Tirol, markanter Streckenabschnitt zwischen Kufstein und Wörgl. Hirsch beschreibt es als „trotzig das Tal scheinbar ganz absperrend“.
Kontrollbuch / Startbuch
Offizielles Dokument, in dem Fahrer an jeder Station Uhrzeit und Unterschrift eintragen mussten. Diente als Nachweis der korrekten Streckenführung.
Magdeburger Velocipeden-Club (M.V.C.)
Einer der ältesten deutschen Radsportvereine, gegründet 1883. Hans Traugott Hirsch fuhr hier unter dem Banner des M.V.C.
Münchener Kindl
Symbolfigur der Stadt München. Beim Festabend der „Münchener Radfahrer-Woche“ trat ein Schauspieler als Kindl auf und begrüßte die Fahrer mit einem spöttisch-herzlichen Gedicht.
Pneumatik / Pneumatikreparatur
Bezeichnung für Luftreifen (damals neuartig). Defekte erforderten Vulkanisieren oder Einkleben mit Gummilösungsmittel – langwierig und fehleranfällig.
Schrittmacher
Begleitfahrer, meist mit Tandem oder stärkeren Beinen, der Windschatten spendete oder die Pace vorgab. In Distanzrennen offiziell erlaubt, später verboten.
Steinhausen (Schützenhaus Steinhausen)
Ort des Ziels und der Kontrolle in München. Diente als Festplatz und medizinischer Untersuchungsort für die ankommenden Fahrer.
Trifoni, Costa, Reheis, Fischer, Gerger, Hirsch, Grüttner
Teilnehmer der internationalen Distanzfahrt 1894.
– Josef Fischer (München): Sieger.
– Max Reheis (München): 2. Platz.
– Franz Gerger (Graz): 3. Platz.
– Hans Traugott Hirsch (Magdeburg): 4. Platz.
– Oswald Grüttner (Leipzig): 5. Platz.
– Carlo Trifoni (Italien): 6. Platz.
– Costa (Italien): 7. Platz.
Velociped / Velociped-Club
Frühform des Fahrrads bzw. Bezeichnung für Radfahrervereine der 1880er/90er Jahre. Das Wort wurde erst um 1900 allmählich vom Begriff „Radfahrer“ verdrängt.
Waidbruck, Salurn, Ala, Peri, Rogoredo
Historische Ortsstationen entlang der Route Mailand–München. Heute Teil Norditaliens bzw. Südtirols.
Quellenverzeichnis
Radfahr-Humor, Beilage zur Radfahr-Chronik, München 1894.
- Nr. 75, 13. Juni 1894: Bericht „Die Münchener Radfahrer-Woche“ und „Von der internationalen Distanzfahrt Mailand–München“.
- Nr. 76, 20. Juni 1894: Fortsetzung des Originalberichts „Erlebnisse eines Distanzfahrers“ von Hans Traugott Hirsch.
- Nr. 77, 27. Juni 1894: Schluss des Berichts „Von der internationalen Distanzfahrt Mailand–München“ (Hans Traugott Hirsch).
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