Während ich hier Anfang September in der Sonne am Spreeufer sitze – müde, aber glücklich – blicke ich auf eine unvergleichliche Woche als ‚Race Director‘ der Distanzradfahrt Wien-Berlin zurück. Was für ein Abenteuer! Der Supergrevet 2024 hat uns allen gezeigt, was es bedeutet, an Grenzen zu gehen – geografisch, mental und körperlich. Auch für das Organisationsteam war es ein Ultra-Marathon: Kilometer um Kilometer auf dem Rad, wenig Schlaf, Multitasking. Denn bei Grevet geschieht nichts vom Sofa aus – wir vom Team sind mitten im Geschehen, embedded.
Von der Vergangenheit inspiriert: vergessener Radklassiker trifft Gravel-Epos
Die Ursprünge dieser legendären Route reichen bis ins Jahr 1893 zurück, als die ersten Fahrer – leider zu dieser Zeit noch ohne Fahrerinnen – die 600 Kilometer zwischen Wien und Berlin unter extremen Bedingungen meisterten. Ihre Räder, eher Relikte aus dem Dampfzeitalter als moderne Fahrräder, führten sie über unaspaltierte Wege, während sie sich mit Landkarten orientieren mussten, die kaum hilfreiche Informationen boten. Der Sieger, Joseph Fischer, bewältigte die Strecke in beeindruckenden 31 Stunden, unterbot damit den bisherigen Rekord von Reitern um die Hälfte und beeindruckte somit die staunenden Massen in Österreich und Deutschland von der Leistungsfähigkeit des Fahrrads.
2024, 131 Jahre später, haben wir dieses Erbe erneut zum Leben erweckt – mit moderner Technik und Gravelbikes. Und doch blieb der Kern unverändert: Zwei Reifen, ein Rennbügel, Abenteuer, Selbstständigkeit und die Überwindung eigener Grenzen.
Das Pre-Event: Ein stimmungsvoller Auftakt in Wien
1893 wurden die Wien-Berlin-Starter am Vortag von einem Zug aus „achthundert Radfahrern und Radfahrerinnen“ und „100.000 Zuschauern“ empfangen. Ganz so groß fiel der Auftakt ’24 nicht aus, aber wir haben alle Hebel in Bewegung gesetzt um mit dem Pre-Event das internationale Starterfeld und die Wiener Radcommunity zusammenzubringen. Der Supergrevet 2024 startete mit einem Social Ride auf den Kahlenberg, gefolgt von einer lockeren Party rund um den Wiener Würstelstand, einem charmanten urbanen Treffpunkt, der nicht nur für seine köstlichen Spezialitäten bekannt ist, sondern seit kurzem auch als Teil des UNESCO-Weltkulturerbes anerkannt wurde. Dieser besondere Status unterstreicht die kulturelle Bedeutung der Wiener Würstelbuden, die seit Generationen ein fester Bestandteil des Stadtlebens sind, und macht sie zu einem Symbol für die Wiener Gastfreundschaft und Tradition. Direkt unter dem kunstvoll gestalteten Fernheizwerk von Friedensreich Hundertwasser wurde so ein Ort geschaffen, der sowohl lokale als auch internationale Besucher anzieht und die Verbindung zwischen Sport, Kultur und Kulinarik feiert.
Die 31 Kilometer lange Tour, organisiert vom Kurbel Kollektiv Wien und der Wiener Schotteria, bot atemberaubende Ausblicke vom Kahlenberg auf die Skyline Wiens und somit die perfekte Einstimmung auf das große Abenteuer. Die Route war liebevoll geplant und bot eine ausgewogene Mischung aus Schotterpassagen und asphaltierten Abschnitten. Mit einem Anstieg von etwa 550 Höhenmetern verlangte die Tour zwar etwas Einsatz, war aber so gestaltet, dass auch Newbies und all jene, die sich für den Supergrevet die Beine schonen wollten, Freude daran hatten. Die Fahrt führte durch Wiens grüne Gürtel: sanft geschwungene Wege, dichte Wälder und Lichtungen, die immer wieder einen fantastischen Blick auf die Stadt freigaben. Der Höhepunkt war der Aussichtspunkt auf dem Kahlenberg, von dem aus man bei Sonnenuntergang das ganze Wiener Becken überblicken konnte – ein magischer Moment, der die Vorfreude auf die bevorstehende Herausforderung noch verstärkte.
Den eigentlichen Höhepunkt bildete dann aber die Party rund um den kongeniale Wiener Würstelstand. Dieser versorgte uns dabei mit Bier, (auch veganer) Wurst von Bosna bis Käsekrainer um einem DJ Set von Krawallbarbie. Immer im Hintergrund dabei: das Fernwärmewerk Spittelau, künstlerisch gestaltet von Friedensreich Hundertwasser. Vor Ort fand auch die Verlosung der Finisherpreise der Wiener Grevet-Serie statt mit Preisen gestiftet von POC, Grevet, und der Trikoterie. Begleitet wurde dies von einem Goldsprint in Koop mit Urban Tribes, der sportliche Spannung und Partystimmung vereinte. Sicher ist: sowohl in Wien, als auch in Berlin, weiß man wie Party geht.
Der Start: Adrenalin im Floridsdorfer Aupark
Am Morgen des Grand Départ herrschte bereits Stunden vor dem offiziellen Start ein geschäftiges Treiben am Floridsdorfer Aupark. Die Spannung war förmlich greifbar, während Fahrer:innen aus ganz Europa ihre Räder noch einmal überprüften, Taschen neu justierten und letzte Anpassungen vornahmen. Inmitten der angeregten Gespräche und wachsenden Vorfreude wurde immer wieder „Viel Glück!“ gewünscht – ein Ausdruck von Kameradschaft, der das gesamte Event prägte.
Das Kurbel Kollektiv Wien war dabei ein unverzichtbarer Ankerpunkt: Mit Werkzeug, Luftpumpen und helfenden Händen sorgten sie dafür, dass selbst die kleinsten technischen Probleme noch rechtzeitig gelöst werden konnten. Gleichzeitig waren sie auch moralische Stützen und motivierten die Teilnehmer:innen, während die letzten Vorbereitungen abgeschlossen wurden.
Fast Pünktlich um 10:05 Uhr setzte sich das bunte, internationale Feld in Bewegung. Das Klicken der Pedale, das rhythmische Surren der Freiläufe und die ersten Zurufe hallten durch den Park. Von diesem Moment an begann für jede:n der Fahrer:innen ein individuelles Abenteuer, das nicht nur geographische Distanzen, sondern auch persönliche Grenzen überwinden sollte. Die Energie, die vom Startpunkt ausging, war elektrisierend – ein Moment, den viele für immer in Erinnerung behalten werden.
Entlang der Donau und durchs Weinviertel
Nach dem energiegeladenen Start führte die Strecke die Fahrer:innen entlang der Donau, die in den frühen Vormittagsstunden im Sonnenlicht glitzerte. Der Fluss begleitete das Peloton wie ein stiller, majestätischer Wegweiser und bot eine malerische Kulisse für die ersten Kilometer. Der Weg durch das Wiener Umland war geprägt von ruhigen, gut ausgebauten Wegen, die vorbei an den Auwäldern der Donau eine sanfte Einstimmung auf die kommenden Herausforderungen boten.
Während im vergangenen Jahr die erste Etappe durch plötzlich einsetzenden Regen zu einer regelrechten Wasserschlacht wurde, stellte dieses Jahr die unbarmherzig brennende Sonne eine große Herausforderung dar. Besonders auf der exponierten Strecke bis zur tschechischen Grenze, die durch endlose, offene Felder führte, waren die Fahrer:innen der Hitze schutzlos ausgeliefert und mussten früh an ihre Grenzen gehen.
Ein Teilnehmer fühlte sich an ein Wüstenrennen in Spanien erinnert, das er im Vorjahr bestritten hatte. „Die flimmernde Hitze, der trockene Wind und kein Schatten – es war fast surreal. Vielleicht war Wien-Berlin sogar härter in der Hinsicht, erklärte er später lachend am Ziel. Die Kombination aus körperlicher Belastung und der rauen Schönheit der Landschaft verlieh der ersten Etappe ihren besonderen Charakter und ließ bereits erahnen, dass der Supergrevet 2024 erneut ein unvergessliches Abenteuer werden würde.
In Hollabrunn, einem der ersten markanteren Orte, fanden die Teilnehmer:innen eine willkommene Möglichkeit, eine kurze Pause einzulegen. Der Checkpoint des Abschnitts war passend zum heißen Wetter an einem der namensgebenden Brunnen der Stadt eingerichtet. Hier wurden nicht nur Wasserflaschen aufgefüllt, sondern auch einige kreative Strategien sichtbar: Einige Fahrer:innen hatten sogar kleine Döschen mit Kochsalz dabei, um ihre Elektrolyte aufzufrischen und die Hitze besser zu bewältigen.
Einige kühlten sich direkt unter dem fließenden Wasser des Brunnens ab, während andere kurz inne hielten, um Energie zu tanken. „Diese kleinen Momente machen den Unterschied,“ erklärte ein Teilnehmer, der mit einem improvisierten Nackenwickel aus einem durchnässten Halstuch weiterradelte. Hollabrunn war für viele ein kleiner, aber bedeutsamer Rückzugsort, bevor die Strecke weiter durch die sanften Hügel und die Weingärten des Weinviertels führte.
Der folgende Abschnitt durch das Weinviertel war eine Mischung aus idyllischer Ruhe und stetiger Arbeit. Der Wechsel von sanften Anstiegen und Abfahrten, begleitet von dem süßen Duft der reifen Trauben und der herben Frische der Natur, machte diesen Teil der Strecke zu einem Genuss für die Sinne. Gleichzeitig begannen viele Fahrer:innen hier, ihren eigenen Rhythmus zu finden. Der Tisch im Weinviertel scheint immer reich gedeckt: die leuchtend organgen Kürbisfelder boten einen Kontrast zum strahlend blauen Himmel und die Getreidefelder wurden gerade bestellt.
Besonders bemerkenswert war die Strecke durch die Kellergassen, die den Charakter des Weinviertels mit ihrer Geschichte und Architektur perfekt widerspiegelten. Die kleinen, verschlafenen Weinorte wirkten fast wie aus der Zeit gefallen, und doch spürte man den unermüdlichen Fortschritt des Feldes, das sich Kilometer für Kilometer seinem Ziel näherte.
Taya-Nationalpark und Znaim: Ein magischer Moment an der Grenze zwischen Österreich und Tschechien
Der Übergang ins tschechische Grenzland war dann ein absolutes Highlight. Die Strecke führte durch den Taya-Nationalpark, ein Gebiet, das sich durch dichte Wälder, Flussauen und markante Sandsteinklippen auszeichnet. Die Fahrer:innen erklommen einen Anstieg, der sich zwischen hohen Bäumen hindurchwand und mit jedem Höhenmeter neue Ausblicke bot. Oben angekommen, eröffnete sich ein spektakulärer Panoramablick über die Sandsteinklippen des Nationalparks. Die Thaya, die sich tief unten durch das Tal schlängelt, und die schroffen Felsen, die in der Sonne leuchteten, boten eine Szenerie, die fast surreal wirkte. Für einen Moment schien die Welt stillzustehen – die Anstrengungen des Anstiegs wurden mit diesem Anblick mehr als belohnt.
Besonders eindrucksvoll war dann erneut die Ankunft in Znaim an der tschechischen Grenze: Hoch über der Thaya thront diese mittelalterliche Stadt, die mit ihrer imposanten Burg und den verwinkelten Gassen einen Hauch von Magie verströmte.
Für viele war Znaim der erste große Meilenstein – eine Gelegenheit, Energie zu tanken, das Panorama zu genießen und in die Besonderheit dieser grenzüberschreitenden Fahrt einzutauchen.
Tschechien: Schotter, Dorfsupermärkte und weite Wälder
Hinter Znaim wurde die Landschaft dann wilder und abwechslungsreicher. Schotterwege schlängelten sich durch dichte Wälder, in denen das Licht der Sonne nur stellenweise durch die Baumkronen drang. Die hügeligen Abschnitte forderten nicht nur die Beine, sondern auch die Konzentration, besonders wenn der Untergrund rauer wurde. Hier begegneten die Fahrer:innen den ersten größeren Herausforderungen der Tour. Die Route bot jedoch nicht nur körperliche Anstrengung, sondern auch visuelle Belohnungen: von weiten Feldern bis hin zu kleinen, malerischen Dörfern, die scheinbar seit Jahrhunderten unverändert geblieben sind.
Herzliche Begegnungen in Dorfsupermärkten
Besonders in diesen Dörfern fanden die Fahrer:innen oft eine willkommene Verschnaufpause in den kleinen, traditionellen und gefühlt 24/7 geöffneten Supermärkten. Die Potraviny wurden während der Hitrze zu wahren Oasen. Mit einer charmanten Mischung aus tschechischem Humor, Gastfreundschaft und Neugier versorgten die Betreiber:innen die Fahrer:innen nicht nur mit dringend benötigtem Proviant wie frischen Brötchen, Joghurt oder Kofola, sondern auch mit unvergesslichen Begegnungen. Selbst wer kein Tschechisch sprach, fand einen Weg, sich mit Händen, Füßen und Lächeln zu verständigen – eine einfache, aber herzliche Kommunikation, die in Erinnerung blieb.
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Die Herausforderung vor Iglau: Hügel und Geschichte
Je näher die Fahrer:innen Iglau (Jihlava) kamen, desto stärker wurde die Topografie. Die Wälder wurden von steilen Hügeln durchzogen, die immer wieder kurze, aber kräftezehrende Anstiege bereithielten. Der Schotter wich hier und da asphaltierten Abschnitten, was für kurze Momente der Erholung sorgte, bevor die nächste Herausforderung wartete.
Die Region um Iglau oder Jihlava ist reich an Geschichte, geprägt von der alten Handelsroute, die einst Wien mit Prag verband. Die Fahrer:innen passierten Ruinen und alte Kirchen, die wie stille Zeugen einer längst vergangenen Zeit am Wegesrand standen, bevor sie schließlich das Stadttor von Iglau erreichten.
Iglau: Treffpunkt, Pause und Wendepunkt
Iglau wurde zum inoffiziellen Sammelpunkt der Fahrer:innen, da viele sich hier für eine Übernachtung entschieden. Der Marktplatz, einer der größten und schönsten in Tschechien, bot eine Vielzahl von Restaurants, Cafés und kleinen Bars – perfekt für eine wohlverdiente Pause.
Am Abend herrschte hier eine besondere Atmosphäre. Überall saßen Fahrer:innen zusammen, tauschten Geschichten von der Strecke aus und suchten nach etwas zu essen oder einem kühlen Bier. Die müden Gesichter spiegelten die Anstrengungen des Tages wider, doch in den Gesprächen lag eine Mischung aus Stolz und Vorfreude auf die kommenden Etappen.
Einige Teams hatten sich Unterkünfte gebucht in kleinen Pensionen oder Apartments, andere improvisierten und fanden spontan Outdoor Schlafplätze vor der Stadt. Das Essen und die Übernachtung in Iglau wurde jedenfalls für viele zum regenerativen Wendepunkt, bevor es am nächsten Tag auf die nächste große Herausforderung ging.
Die Ausreißer: Philipp und Jonathan
Während die meisten Fahrer:innen die Ruhe genossen, sorgten zwei Strategien für besondere Spannung. Philipp und Jonathan, die Ausreißer der Tour, entschieden sich, keine Zeit zu verlieren und die Nacht durchzufahren. Mit Stirnlampen und vollem Fokus rollten sie aus Iglau hinaus, bereit, die Dunkelheit und Müdigkeit zu bezwingen.
Ihre Entscheidung beeindruckte viele und zeigte den unterschiedlichen Geist, mit dem die Teilnehmer:innen den Supergrevet angingen: Für die einen war es ein Abenteuer, das bewusst in Etappen genossen wurde, für andere eine sportliche Herausforderung, die jede Grenze ausloten wollte. So wurde Iglau nicht nur zu einem Ort des Ausruhens und des Wiedersehens, sondern auch zu einem symbolischen Knotenpunkt der Vielfalt, die diese Tour auszeichnete – eine Mischung aus solidarischer Begegnung und individuellem Ehrgeiz.
In der Gesamtschau stets eng auf ihren Fersen sollten den beiden Ausreißern Felix und Tom bleiben, die ein gänzlich anderes Konzept verfolgten: Statt durchzufahren, legten beide großen Wert auf ausgiebige Regeneration in festen Unterkünften. Diese sorgte für erholsame Nächte, sodass sie tagsüber mit wesentlich höheren Durchschnittsgeschwindigkeiten auftrumpfen konnten. Bis zum Ende sollte offenbleiben, welche Strategie sich letztlich auszahlen würde – die kompromisslose Durchfahr-Methode oder die clevere Balance aus Pausen und Tempo. Dieses spannende Duell verlieh der Tour eine zusätzliche Dynamik, die Fahrer:innen und Zuschauer:innen des Dotwatchings gleichermaßen fesselte.
Die Fahrt durchs Hinterland: Von Kutná Hora bis zur deutschen Grenze
Nach dem Zwischenstopp in Iglau führte die Strecke weiter ins Herz des tschechischen Herzlandes, das Fahrer:innen mit seiner landschaftlichen Vielfalt, historischen Orten und körperlichen Herausforderungen in seinen Bann zog.
Kutná Hora: Der Hauch der Geschichte
Die historische Stadt Kutná Hora, einst das Zentrum des Silberbergbaus, markierte einen weiteren bedeutenden Punkt der Tour. Die gotische Architektur der Stadt und der imposante Dom der Heiligen Barbara grüßten die Fahrer:innen aus der Ferne, bevor sie die charmanten, kopfsteingepflasterten Straßen der Altstadt erreichten. Hier hielten viele kurz inne, um die Kulisse zu genießen und Fotos zu machen, bevor es weiterging. Der Checkpoint am Brunnen in Kronenform bot eigentlich Gelegenheit die Wasservorräte aufzufüllen, war aber leider leer – zum Glück gab es keinen Späti um die Ecke.
Doch das Frauenteam ließ sich nicht so leicht abschütteln. „Wir hatten nicht vor, das kampflos aufzugeben,“ erklärte eine der beiden Fahrerinnen später. Auf den letzten Kilometern entbrannte ein packendes Kopf-an-Kopf-Rennen, das allen Beteiligten alles abverlangte.
Juan Diaz und Brett Kamino: Das taktische Überholmanöver
Auf den letzten Etappen entfaltete sich ein spannender Wettkampf zwischen den Teams, die um die Spitzenplätze kämpften. Besonders das Team „Ciao Cacao“ sorgte für Aufsehen – allerdings aus unerwartetem Grund. Während einer kurzen Rast explodierte in ihrer Satteltasche eine Box mit Himbeeren und hinterließ eine klebrige Spur aus rotem Saft. „Wir dachten kurz, jemand hätte sich verletzt!“ Aber zum Glück war es nur der Snack!
Die unfreiwillige Himbeer-Episode kostete das Team wertvolle Minuten und bot Diaz und Brett Kamino die Gelegenheit, das lange führende Frauenteam aus Österreich zu überholen. Die beiden Österreicherinnen, die bis dahin mit beeindruckender Konstanz die Spitze der Teamwertung angeführt hatten, mussten zusehen, wie die beiden Männer mit einem entschlossenen Tempo an ihnen vorbeizogen.
Im Ziel angekommen, war die Stimmung jedoch alles andere als verbissen. Die Fahrer:innen tauschten Geschichten über die letzten Kilometer aus. Es war ein perfektes Beispiel dafür, wie der Supergrevet nicht nur die Grenzen von Ausdauer und Strategie, sondern auch die einer guten Portion Humor auslotete.
Nymburk und entlang der Elbe
Hinter Kutná Hora führte die Route weiter durch das flache Hinterland in Richtung Nymburk, einer Stadt, die malerisch am Ufer der Elbe liegt. Die Strecke entlang des Flusses war ein Highlight, geprägt von ruhigen Wegen und der friedlichen Kulisse von Wasser und Wald. Hier konnten Fahrer:innen für kurze Zeit die Beine „rollen lassen“, bevor die Route wieder anspruchsvoller wurde.
In Nymburk, bekannt für seine gut erhaltene mittelalterliche Stadtmauer, trafen sich viele Teilnehmer:innen zu einer improvisierten Pause. Einige genossen einen schnellen Snack an einem Straßenimbiss, während andere auf einer Bank am Fluss die Aussicht und die sanfte Brise nutzten, um sich etwas zu erholen.
Durch Ralsko: Ein lost place und beeindruckende Ruinen
Der Abschnitt entlang des Flusses Ralsko brachte dann einen spürbaren Wechsel in der Landschaft mit sich. Dichtere Wälder und sanfte Hügel führten die Teilnehmer:innen zu einem der bemerkenswertesten Abschnitte der Tour: der Böhmischen Burg Bezděz (Bösingen). Hoch oben auf einem Basaltkegel thronte die mittelalterliche Ruine, die für viele Fahrer:innen ein ikonisches Fotomotiv darstellte. Der steile Anstieg dorthin war fordernd, aber der Ausblick über die weite, unberührte Landschaft entschädigte für jede Mühe.
Nicht weit von Bezděz führte die Strecke über den ehemaligen sowjetischen Flugplatz Ralsko, ein Relikt aus der Zeit des Kalten Krieges. Die verfallenen Hangars und die zerbröckelnde Landebahn gaben diesem Abschnitt eine beinahe surreale Atmosphäre. Fahrer:innen, die hier zum ersten Mal unterwegs waren, beschrieben den Ort als „einen gespenstischen Kontrast zur Natur drumherum“.
Die Hügel der Lausitzer Berge und die Bergbaulandschaften an der Grenze
Je näher die Teilnehmer:innen der deutschen Grenze kamen, desto anspruchsvoller wurde die Strecke. Die Lausitzer Berge mit ihren vielen Höhenmetern verlangten einiges an Kondition und Technik. Schmale Pfade, steile Anstiege und lose Untergründe machten diesen Abschnitt zu einem echten Test für Mensch und Maschine.
Besonders eindrucksvoll war die Fahrt entlang der Bergbaulandschaften, die die Geschichte der Region widerspiegelten. Stillgelegte Tagebaue und beeindruckende Erdformationen erinnerten an die industrielle Vergangenheit der Gegend. Viele Teilnehmer:innen hielten kurz inne, um die surreale Szenerie zu bewundern, bevor sie sich auf die letzten Kilometer in Richtung Görlitz machten.
Die Mischung aus historischen Stätten, landschaftlicher Schönheit und sportlichen Herausforderungen machte diesen Abschnitt druch Dreiländereck Tschechien, Polen und Deutschland zu einem der abwechslungsreichsten, aber gleichzeitig auch anspruchvollsten der gesamten Tour. An der deutschen Grenze angekommen, freuten sich die Fahrer:innen auf die Oase des Checkpoints in Görlitz – und die wohlverdiente Ruhe, bevor sie das letzte große Kapitel der Fahrt in Angriff nahmen.
Görlitz: Eine architektonische Perle und Oase der Erholung
Görlitz, bekannt als „die schönste Stadt Deutschlands“, wurde für viele Fahrer:innen mehr als nur ein Checkpoint – es war eine inspirierende Zwischenstation und Oase der Erholung. Dank unseres Gastgebers Sebastian standen warme Duschen, Snacks und Schlafmöglichkeiten bereit. Die beeindruckende Altstadt, mit ihren Baustilen von Gotik über Renaissance bis Jugendstil, bot eine prächtige Kulisse, auch wenn die meisten nur einen kurzen Moment hatten, diese zu bewundern. Im Kühlhaus Görlitz, einem kreativ umgestalteten Industriegebäude, warteten echter Luxus auf der Tour. Besonders in der Nacht, wenn erschöpfte Teilnehmer:innen eintrafen, wurde dieser Ort zum Hafen der Erholung. Eine warme Dusche, ein kurzer Schlaf auf einer Matratze und die Gelegenheit, sich mit anderen auszutauschen, gaben vielen den nötigen Schwung für die letzte Etappe. Legendär wurde die Szene eines Fahrers, der nach seiner Ankunft völlig ausgelaugt eine Packung Supermarktsushi verschlang, sich direkt auf die Wiese legte und binnen Minuten einschlief – und bis zum Sonnenaufgang regungslos blieb. Mit frischen Vorräten, einer kurzen Auszeit und dem eindrucksvollen Anblick der Stadt im Kopf, brachen die Fahrer:innen von hier aus auf, das Ziel in Berlin endlich greifbar nah. Viele gingen die letzten 300 Kilometer in einer langen Entspurtetappe an.
Die letzten 300 Kilometer: Von Brandenburgs Seen über Tagebauwüsten bis zur Skyline Berlins
Die letzten 300 Kilometer durch Brandenburg wurden für viele Teilnehmer:innen zu einer ultimativen Herausforderung, die sie in einer einzigen Etappe bewältigten. Der Weg führte zunächst durch die Oberlausitz, eine Region, die mit ihrer einzigartigen Teichlandschaft beeindruckte. Die Morgensonne spiegelte sich in den stillen Wasserflächen nahe Hoyerswerda und Senftenberg, während das leise Surren der Räder die idyllische Ruhe nur sanft durchbrach.
Doch die Harmonie der Teichlandschaft wich schnell der rohen Dramatik der Tagebaulandschaften. Im Bereich des Besucherbergwerks F60 boten die menschengemachten Schluchten und das gigantische Stahlgerüst der Abraumförderbrücke einen surrealen Kontrast zur Natur. Hier, wo einst Kohle das Land formte, radelten die Fahrer:innen durch eine fast außerirdisch anmutende Szenerie, die den Blick für die Dimensionen menschlicher Eingriffe schärfte.
Nach den weiten, oft windigen Flächen der ehemaligen Tagebaureviere ging es weiter durch kleine Dörfer wie Luckau und Baruth, die mit ihren Kopfsteinpflasterstraßen und alten Backsteinbauten ein Stück brandenburgischen Charmes zurückbrachten. Spätestens ab Zossen spürten viele Fahrer:innen die Nähe zur Hauptstadt.
Bevor jedoch die Stadtgrenze erreicht wurde, wartete ein unerwarteter Höhepunkt: der Anstieg auf einen der Müllhügel, der inzwischen zur grünen Erhebung umgestaltet wurde. Von dort aus bot sich eine beeindruckende Aussicht auf die Skyline von Berlin, deren Türme und Dächer sich am Horizont abzeichneten. Für viele war dies ein emotionaler Moment – das Ziel so nah, die Erschöpfung so präsent.
Mit neuer Motivation ging es hinab, und kurz darauf überquerten die Fahrer:innen die Stadtgrenze. Berlin empfing sie mit all seiner urbanen Energie, während sie auf den letzten Kilometern durch den südlichen Teil der Stadt Richtung Tempelhofer Feld rollten. Die letzten Stunden und Kilometer wurden so zu einem bewegenden Finale, das die enorme Leistung und den Spirit des Supergrevet 2024 noch einmal eindrucksvoll unterstrich.
Berlin: Ein emotionales Finale und die Geschichten, die die Reise schrieb
Die letzten Kilometer nach Berlin führten vorbei an historischen Brücken und stillen Wäldern. Schließlich erreichten die Fahrer:innen das Hauptzollamt in Berlin Tempelhof, bei Tag nach einer Ehrenrunde übers Tempelhofer Flugfeld – ein emotionaler Höhepunkt.
Ob am helllichten Tag oder spät in der Nacht: Die Ankunft war jedes Mal ein bewegender Moment. Jubel, Erleichterung und die Freude über das Erreichte waren allgegenwärtig. Die Geschichten, die Fahrer:innen über unerwartete Begegnungen, raue Nächte und magische Sonnenaufgänge erzählten, machten diesen Moment noch unvergesslicher.
Die letzten Kilometer ins Ziel auf dem Tempelhofer Feld waren von einer einzigartigen Stimmung geprägt. Während die untergehende Sonne den Himmel in warme Farben tauchte, erreichten die ersten Fahrer das Zielgelände – müde, aber mit einem Ausdruck purer Erleichterung und Freude im Gesicht.
Als Organisator ist es immer das Spannendste, die Geschichten der Teilnehmer:innen im Ziel zu hören. Jede Ankunft erzählt von individuellen Herausforderungen, kuriosen Episoden und persönlichen Triumphen. So z.B. Dani, die sich trotz Westenstich und Rennhintergrunds das tägliche Feierabendbier nicht nehmen ließ, oder Mike, der während der Fahrt seinen Geburtstag bei schönster Sonnenaufgangs-Naturkulisse feierte. Hier eine kleine Auswahl:
Jonathan: Der erste im Ziel
Kurz vor Einbruch der Dunkelheit rollte Jonathan als erste ins Ziel und wurde mit tosendem Applaus und einer Flasche Sekt begrüßt. Geschlafen hat er nur einmal kurz vor Berlin auf einem Waldweg über die gesamte 800 Kilometer Distanz.
Felix und Tom: Eine Strategie der Präzision
Nur wenige Stunden später erreichten Felix und Tom das Ziel. Mit ihrer Strategie, in festen Unterkünften zu schlafen und mit hohem Tempo zu fahren, blieben sie Jonathan immer dicht auf den Fersen. Als sie ankamen, war die Stimmung weniger ekstatisch, dafür mehr von einer ruhigen Zufriedenheit geprägt. „Jetzt erstmal nen Döner“. Ihre Leistung zeigte, dass unterschiedliche Strategien zum Erfolg führen konnten. Bei der letzten schnellen 300 Kilometer Etappe galt für die beiden das Motto: „bum bum bum, wir fahren uns heute dumm“.